Aaron S. Watkin
Premiere 21. November 2009
In adaptierter Fassung
Sie sind der Inbegriff des klassischen Balletts: die verwunschene Schwanenprinzessin Odette und ihre Schwanenmädchen. Und es ist kaum zu glauben, dass »Schwanensee« für Pjotr I. Tschaikowsky zur größten Enttäuschung werden sollte, denn die Moskauer Uraufführung von 1877 fiel komplett durch. Erst 1895 sorgten die Ballett-Visionäre Marius Petipa und Lew Iwanow in ihrer Deutung für die unsterbliche Verbindung von Pracht und Virtuosität sowie lyrisch-elegischem Ausdruck. Beide Elemente manifestieren sich in den weiblichen Hauptpartien: Odile, der schwarze Schwan, eine Verkörperung der machtvoll-verführerischen, extrovertierten Frau. Odette, der weiße Schwan, als poetisch überhöhter Ausdruck introvertierter weiblicher Zartheit und Verletzlichkeit. Dazwischen die Liebe Siegfrieds, der im entscheidenden Moment versagt und alles zerstört. Chefchoreograf und Ballettdirektor Aaron S. Watkin hat sich in seiner Neukreation von 2009 des Klassikers behutsam und aus tiefer Kenntnis der Traditionen angenommen. Herausgekommen ist ein »Schwanensee« von zeitloser Eleganz, Poesie und Anrührung, der in der meisterhaften Interpretation des Semperoper Ballett immer wieder begeistert.
1. Szene – Odettes Geschichte
(An einem Seeufer)
Der junge Prinz Siegfried und sein Freund Benno von Sommerstein gelangen im Wald an ein ihnen unbekanntes Seeufer. Siegried hatte sich hierher geflüchtet, um seiner Mutter zu entgehen, die ihn – nachdem er nun volljährig ist – verheiraten will und dafür am darauffolgenden Abend zu einem großen Ball eingeladen hat. Vier Prinzessinnen der einflussreichsten europäischen Höfe werden kommen, von denen er eine zur Braut erwählen muss.
Aus seinen Gedanken gerissen entdeckt der Prinz eine Formation von Schwänen am Horizont und Benno überredet Siegfried zur Jagd. Als sie ihre Armbrüste anlegen und zielen, fliegt ein einzelner Schwan heran. Sie sind gebannt, als der Schwan sich vor ihren Augen in ein wunderschönes Schwanenmädchen verwandelt. Siegfried versichert ihr, dass sie ihnen kein Leid zufügen wollten, doch das Schwanenmädchen antwortet, dass die Schwäne, die sie zu töten suchten tatsächlich sie selbst und ihre Gefährtinnen seien und erzählt ihnen ihre Geschichte:
»Kurz nach meiner Geburt starb mein Vater. Meine Mutter, eine gute Fee, verliebte sich alsdann in einen Baron und heiratete ihn. Mein Stiefvater, Baron von Rotbart, jedoch gab sich als böser Zauberer zu erkennen, der meine Mutter zugrunde richtete. Meine Großmutter vergoss so viele bittere Tränen um das Schicksal ihrer Tochter, dass aus ihnen dieser See entstand. Baron von Rotbart derweil band meine Freundinnen und mich durch einen abscheulichen Fluch an sich, der uns in Schwäne verwandelte. Die Kräfte meiner Großmutter vermochten nur, diesen Fluch zu mildern. Und so leben wir als Schwäne am Tage, aber als Schwanenmädchen in der Nacht. Auch beschützt sie uns mit diesen Kronen. So lange wir sie tragen, kann Baron von Rotbart uns nicht weiter schaden. An dem Tag, an dem ich die wahre Liebe eines Mannes finde und ihm diese Krone zu Füßen lege, ist der Fluch gebrochen. Ist seine Liebe jedoch nicht aufrichtig, bin ich dazu verdammt, den Rest meines Lebens ein Schwan zu sein.«
Odette, so der Name des Schwanenmädchens, lädt Siegfried ein, mit ihr und ihren Schwanenmädchen den Abend zu verbringen. Im Tanz verliebt sich der Prinz leidenschaftlich in Odette, die jedoch zögernd reagiert. Siegfried schwört Odette ewige Liebe und Treue. Sie entsinnt sich ihres Schicksals und nimmt ihm das Versprechen ab, diesen Schwur auch auf dem morgigen Ball zu halten.
2. Szene – Rotbarts Betrug an Siegfried und das gebrochene Versprechen
(In einem prunkvollen Saal des Schlosses)
Noch voll der Erinnerungen an den vorangegangenen Abend erscheint Siegfried vor seiner Mutter auf dem Ball. Fanfaren verkünden die Ankunft der vier Prinzessinnen aus den Königshäusern Neapel, Russland, Aragon und Ungarn.
Die Königin fordert Siegfried auf, seine Braut zu wählen. Plötzlich erscheint ein unerwarteter Gast: Baron von Rotbart trifft in Begleitung seine Tochter Odile, die ein Ebenbild Odettes ist, auf dem Fest ein. Schon bald kann Siegfried ihr nicht länger widerstehen und ergibt sich der Macht seiner Gefühle. Spontan küsst er Odiles Hand. Die Königin ist über diesen Bruch der Etikette entsetzt und weist ihn zurecht. Dies ist der Moment, auf den Rotbart gewartet hat. Er fordert Siegfried auf, vor dem versammelten Hof Odile ewige Liebe zu schwören und um ihre Hand anzuhalten. Siegfried, berauscht von Odile, legt den Schwur ab. Da erscheint Odette vor den Fenstern der Halle. Siegfried begreift, dass er in die Irre geführt wurde und er damit seinen Odette gegebenen Schwur gebrochen hat. Verzweifelt verlässt er den Hof auf der Suche nach Odette.
3. Szene – Der Liebe Triumph
(An einem Seeufer)
Die Schwanenmädchen warten am Seeufer auf Odette. Sie erzählt ihnen, dass Siegfried sie verraten hat. Da trifft Rotbart mit seiner Entourage ein; demütigt und prophezeit Odette: Mit dem ersten Sonnenstrahl am nächsten Morgen wird sie auf ewig zum Schwan verwandelt.
Siegfried, der Odette an den See gefolgt ist, will sie vor Rotbart beschützen. Doch Rotbart erinnert ihn an den Schwur, den er Odile gegeben hat und hilflos wird Siegfried von den schwarzen Schwänen fortgezogen. Die Schwanenmädchen drängen Odette, Siegfried zu vergessen und sich in Sicherheit zu bringen. Sie aber ist fest entschlossen, ihn ein letztes Mal zu sehen. Siegfried, der sich befreien konnte, bittet Odette um Vergebung. Im Widerstreit der Gefühle vergibt sie ihm schließlich. Gegen die Stärke ihrer Liebe kommt auch Rotbart nicht mehr an und Odette und Siegfried ziehen sich in die Welt des Sees zurück, wo sie niemand mehr erreichen kann.
Werkeinführung
Das Ballett »Schwanensee« in der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow zur Komposition von Pjotr I. Tschaikowski zählt heute weltweit zu den großen Klassikern des Handlungsballetts. Wie das Werk entstand, sein spannender Weg zu seiner heutigen Form und welche Aspekte Choreograf Aaron S. Watkin bei seiner Interpretation wichtig waren, davon berichtet im Ballettführer Dramaturg Johann Casimir Eule.

Schwanensee












»Seine Musik ist durch und durch Ballettmusik...«
»Die wirkliche Berufung Tschaikowskys war das Ballett«, schrieb der Tänzer und Choreograf Michail Fokin 1913 anlässlich des 20. Todestags des Komponisten.
Wenn uns heute dieses Urteil vielleicht ein wenig zu eng gefasst erscheint, so müssen wir doch zumindest für Tschaikowskys Bühnenschaffen feststellen, dass zwar alle seine drei Ballette, von den zehn vollendeten Opern jedoch nur »Eugen Onegin« und »Pique Dame« im gängigen Repertoire sind – Aufführungen der »Jungfrau von Orleans», von »Mazeppa« oder »Iolanthe« usw. sind vergleichsweise selten.
Dass in Tschaikowskys sinfonischer Musik vielfach tänzerische Elemente vorkommen, wurde bereits zu seinen Lebzeiten diskutiert und wird für den Zuhörer im Konzert immer wieder erfahrbar. Nicht von ungefähr griffen viele Choreografen des 20. Jahrhunderts wie George Balanchine, Kenneth MacMillan und John Cranko, um nur einige zu nennen, für ihre Choreografien auch auf seine Instrumental- und Orchesterwerke zurück.
Umso mehr mag es aus heutiger Sicht überraschen, dass die Musik zu »Schwanensee« von vielen Kritikern nach der Moskauer Uraufführung am 20. Februar 1877 als »einförmig und langweilig«, ja als »blass und äußerst monoton« empfunden wurde. »Für Musiker«, so war zu lesen, »ist sie (die Musik) vielleicht eine interessante Sache, aber für das Publikum ist sie trocken.«
Vergleichsmaßstab für Tschaikowskys Zeitgenossen waren Ballette wie die nur wenige Wochen zuvor in St. Petersburg uraufführte »La Bayadère« mit ihrer zweifellos abwechslungsreichen, temperamentvollen und schmissigen, aber auch recht flachen Musik von Ludwig Minkus. Ballettspezialisten wie Cesare Pugni, Ludwig Minkus u.a. waren Handwerker im besten Sinne, die noch während der Proben kompositorisch jeder Vorgabe und Änderung des Ballettmeisters folgen konnten. Sie schufen eine passgenaue, sehr eingängige Tanz-Musik, die allerdings ohne inhaltlichen Tiefgang und durchaus austauschbar war. So verzeichnete zum Beispiel Cesare Pugnis Partitur zu Arthur Saint-Léons Ballett »Das bucklige Pferdchen« von 1864 Einlagen von insgesamt achtzehn Komponisten!
Tschaikowsky hingegen hatte vor der Arbeit an »Schwanensee« bereits drei Sinfonien und andere Orchesterwerke geschrieben und brachte diese Erfahrungen – und auch diesen musikalischen Anspruch – mit in die Arbeit am »Schwanensee« ein. Zwar findet man in der Musik zu »Schwanensee« durchaus Anklänge an die Tradition des spezialisierten Ballettkomponisten. So werden die Solovariationen musikalisch durch ein obligates Soloinstrument begleitete (im »Schwarzer Schwan-Pas de deux« zum Beispiel durch ein Violin-Solo). Und die klischeehaft blechlastig instrumentierten Coda-Teile der klassischen »Pas«, also der mehrteiligen Tänze, bilden übertrieben knallige Abschlüsse. Doch brachte Tschaikowsky sein sinfonisches Denken und sein kompositorisches Können auch innerhalb der ihm durch Balletttraditionen einerseits und das konkret zu behandelnde Libretto andererseits gesteckten Grenzen vielfältig zum Einsatz.
Nicht nur verdeutlichte Tschaikowsky inhaltliche Bezüge musikalisch durch eine stilistische Übereinstimmung der erklingenden Melodien und spiegelte mit Hilfe der Orchestrierung Personenkonstellationen und Entwicklungen wider. Er schuf für seine Musik von »Schwanensee« auch eine innere Organisation mittels der verwendeten Tonarten: Durch ihren jeweiligen Verwandtschaftsgrad mit der Grundtonart H wird die Musik zu den verschiedenen Personen, Handlungsentwicklungen und Ereignissen innerhalb des Dramas positioniert und eingebunden.
Die divertissementartigen Nationaltänze des dritten Aktes werden auf ebendiese Weise durch ihre Tonarten als hübsches tänzerisches Beiwerk entlarvt, das sich vor allem aus der Balletttradition und den Erwartungen des Publikums erklärte, nicht aber aus Notwendigkeit des Dramas.
Die musikalische Fassung von »Schwanensee« bei der Uraufführung 1877 ist aufgrund mangelnder Quellen unbekannt – die Vermutungen reichen von einer mehr oder weniger unangetasteten Partitur bis hin zu größeren Eingriffen durch den Moskauer Ballettmeister und Choreografen der Uraufführung Julius Reisinger.
Der mit Tschaikowsky befreundete Musikkritiker Nikolai Kaschkin schrieb in seinen »Erinnerungen an Peter Tschaikowsky«, dass dessen Musik nach und nach durch Einlagen aus anderen Balletten ersetzt wurde, bis »fast ein Drittel der ›Schwanensee‹-Musik aus fremden Musikeinlagen« bestand.
Da Kaschkin diese Vorgänge jedoch nicht datiert hat, können sie zeitlich nicht eingeordnet werden und beziehen sich möglicherweise erst auf die beiden Neueinstudierungen des Balletts durch Reisingers Nachfolger Joseph Hansen 1880 und 1882, für die Fremdeinlagen bekannt sind.
Was Tschaikowsky von Einschüben fremder Musik in sein Werk hielt, erfuhr die Ballerina Anna Sobetschtschanskaja, die sich für ihre Vorstellungen als Odette/Odile einen eigenen Pas de deux von Marius Petipa hatte choreografieren lassen – zur Musik von Ludwig Minkus. Tschaikowsky protestierte energisch, ließ sich Minkus’ Musik kommen und komponierte der Ballerina zu Petipas Choreografie eine passende neue Musik, so dass sie den Tanz ohne erneute Probe in ihre Vorstellungen einbauen konnte.
Die heutigen Einstudierungen von »Schwanensee« beziehen sich bis auf wenige Ausnahmen auf die große Neuproduktion des Balletts durch Marius Petipa und Lew Iwanow in St. Petersburg 1895.
Der Dirigent und Ballettkomponist Riccardo Drigo erstellte dafür eine neue musikalische Fassung und nahm in der Partitur, neben vielen Kürzungen und kleineren Umstellungen, auch signifikante Änderungen vor. Zum Beispiel wurden der Walzer und der Pas de trois im ersten Akt vertauscht und die einzelnen Teile innerhalb des »Tanz der Schwäne« im zweiten Akt in eine neue Reihenfolge gebracht.
Am augenfälligsten – und auch heutzutage nach wie vor beibehalten – war sicherlich die Verlagerung des Pas de deux aus dem ersten in den dritten Akt: Die Musik, die wir das »schwarzer Schwan-Pas de deux« kennen, stand ursprünglich nach dem Pas de trois im ersten Bild. Zudem fügte Drigo drei von ihm orchestrierte Stücke aus Tschaikowskys Klavierstücken op.72 in den dritten und vierten Akt ein. Doch selbst mit diesen Eischüben war die Partitur nun ein Viertel kürzer als im Original. Auch in der weiteren Aufführungsgeschichte sind Musik und Libretto von »Schwanensee« immer wieder bearbeitet, dem Geschmack der Zeit und den Intentionen des jeweiligen Choreografen angepasst worden. Dies schließt auch Bemühungen ein, anhand überlieferter Tanznotationen die Version von Petipa/Iwanow möglichst genau zu rekonstruieren, oder, rückgreifend auf Tschaikowskys Autograf, die Partitur wieder in der ursprünglichen, von ihm komponierten Form zum Erklingen zu bringen. Diese lange, immer wieder aufs Neue stattfindende künstlerische Beschäftigung mit »Schwanensee« zeigt, wie recht der namhafte russische Musikkritiker Hermann Laroche hatte, als er, weitaus verständiger als seine bereits zitierten Kollegen, über Tschaikowskys Partitur urteilte: »Seine Musik ist durch und durch Ballett-Musik von einer Qualität, die sie auch für den seriösen Musikfreund interessant macht.«
Der Text von Frank-Rüdiger Berger stammt aus dem Programmheft »Schwanensee«.