Ballett

Carmen

Johan Inger

Ballett in zwei Akten

Premiere 25. Januar 2019

Stück-Info

Das Ballett »Carmen« des schwedischen Starchoreografen Johan Inger reiht sich nahtlos in die Tradition der großen Carmen-Interpretationen von John Cranko über Mats Ek bis Carlos Acosta ein. Aus der Perspektive eines Kindes erzählt Johan Inger in packenden, klaren Bildern die Liebestragödie um Carmen, Don José und den Torero voller Leidenschaft, Eifersucht, Rache und Hass. Johan Inger kreierte »Carmen« 2015 für die Compañía Nacional de Danza in Madrid zu Musik von Georges Bizet, Rodion Schtschedrin und Neukompositionen des Spaniers Marc Álvarez. 2016 erhielt der Choreograf für sein erstes abendfüllendes Ballett den Prix Benois de la Danse in Moskau, den »Oscar« der Ballettwelt. 

Handlung

Ein Junge folgt im Spiel seinem Ball und begegnet dem Schicksal. Die Geschichte beginnt. Vor den Toren der Tabakfabrik vertreiben sich junge Männer die Zeit, José schiebt Wache. Die Arbeiterinnen erscheinen, in ihrem Zentrum Carmen: selbstbewusst, herausfordernd und von den Männern begehrt beherrscht sie das Spiel der Verführung. José weiß nicht wie ihm geschieht, als Carmen im Abgang ausgerechnet ihm eine Akazienblüte zuwirft. Sie hat ihn erwählt! Als José bemerkt, dass der Junge ihn in seinem Tagtraum beobachtet, entfernt er sich. In der Fabrik heizt sich unter den Frauen die Atmosphäre aus Aggression und Konkurrenz immer mehr auf. Streit bricht aus. Carmen zerschneidet einer Kollegin das Gesicht. José führt Carmen ab – aber sie verdreht ihm den Kopf; er lässt sie laufen. José wird von Zúñiga degradiert und erniedrigt. Aus dem Hintergrund sieht José mit an, wie zu Ehren des Toreros eine Party gegeben wird, zu der auch Carmen erscheint. Carmens Lust am erotischen Spiel mit Zúñiga und dem Torero ist offensichtlich – dennoch revanchiert sie sich im Anschluss bei José. Leichtigkeit und Leidenschaft, Verlockung und Lust fließen ineinander. Nach dem Liebesspiel ist es endgültig um José geschehen. War es ein Traum? Dass sie ihn wieder verlässt, stürzt ihn in Verzweiflung; und als José wenig später Carmen und Zúñiga »in flagranti« erwischt, erschießt er den Rivalen vor den Augen Carmens – und des Jungen.

José entflieht, …

… verfolgt von den Schatten seiner Schuld fällt José in einen Abgrund aus Düsternis.

Wieder begegnet José Carmen – kann sie aber nicht halten, wird von den Schatten geplagt, muss zusehen, wie Carmen sich mit dem Torero einlässt. Seine Eifersucht wächst ins Unermessliche. Dazwischen kurze Augenblicke trügerischen Glücks, wenn Carmen, José und der Junge ein Idyll beschwören, das längst verloren gegangen ist. Die Schatten breiten sich immer mehr aus, der Torero tanzt ein letztes Pas de deux mit Carmen und entschwindet. José ersticht Carmen.

Zurück bleiben ein gebrochener Liebender und ein verlorenes Kind.

Werkeinführung

Der Carmen-Stoff ist durch die Oper »Carmen« von Georges Bizet weltweit populär geworden. Dabei gehört »Carmen« seit der Entdeckung des Stoffes im Jahre 1845 für die Bühne durch den Choreografen Marius Petipa dem Tanz. Hierüber, über die literarische Vorlage von Prosper Mérimée, warum die Liebesgeschichte zwischen Don José, Carmen und dem Torero auch heute noch aktuell ist, und die spannende Neudeutung durch den schwedischen Choreografen Johann Inger spricht Dramaturg Johann Casimir Eule in dem Ballettführer online. 

Porträtzeichnung des Chefdramaturgen Johann Casimir Eule
Johann Casimir Eule, Chefdramaturg; Zeichnung nach einem Foto von Ludwig Olah

Entstehungsgeschichte

Liebe, Eifersucht und Tod

Der Wachsoldat Don José verliebt sich in die Zigarettenarbeiterin Carmen – und Carmen verspricht, seine Gefühle zu erwidern, wenn Don José sie, die nach einem blutigen Streit in Gewahrsam genommen werden soll, laufen lasse. Carmen flieht und begibt sich zu ihren Gefährten, den Schmugglern, am Rande der Stadt Sevilla. Nachdem Don José für den Vorfall von seinem Vorgesetzten Zúniga degradiert worden ist, folgt er Carmen in die Illegalität. Doch die flammende Liebesbeziehung hält nur kurz. Carmen, freiheitsliebend wie sie ist, wird Don Josés eifersüchtiger Liebe überdrüssig und geniest die Verehrung des Toreros. Das tödliche Drama nimmt seinen Lauf. So weit, so bekannt.

Dennoch ist es immer wieder spannend, über Carmen nachzudenken, den Stoff zu gestalten, ihn zu besingen und zu vertanzen. Zu vielfaltig sind die Implikationen des Stoffes, interessant die Rezeptionsgeschichte, bedrängend die Aktualität des dargestellten Geschlechterverhältnisses. Wo also anfangen? Vielleicht beim sogenannten Tagesaktuellen. Kürzlich erschien eine Studie zur Gewalt zwischen den Geschlechtern in Deutschland. Abgesehen davon, dass auch die Zahlen zur Ausübung körperlicher Gewalt von Frauen leicht ansteigen, sind Frauen immer noch und immer wieder massiven Tätlichkeiten ausgesetzt. Einige Aspekte lassen aufhorchen und sind besonders unbequem. Rechnerisch stirbt jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag eine Frau durch die Hand eines Mannes in Deutschland. Die meisten Taten sind Beziehungstaten. Der gefährlichste Mann ist der (Ex-)Partner, der tödlichste Ort das eigene Zuhause. Und auch wenn ein höherer Bildungsgrad tendenziell schützt: Die Gewalttaten finden in allen Milieus statt, das Töten des Mannes gehört zum weitgehend verschwiegenen Alltag. Das alles hat mit »Carmen« zu tun, weil die tragische Liebesgeschichte zwischen Carmen, Don José und dem Torero vor allem auch eine Geschichte um Liebe, Eifersucht und den Mord Don Joses an Carmen ist.

Der Choreograf Johan Inger hat sich den Stoff für sein erstes abendfüllendes Handlungsballett ursprünglich nicht selbst ausgesucht – die Choreografie von »Carmen« ist ein Auftragswerk für die berühmte Compañía Nacional de Danza in Madrid aus dem Jahre 2015. Für diese war die Stoffwahl naheliegend, gilt »Carmen« doch als urspanisches Sujet. Der Schwede Inger hat dann das gemacht, was man macht, wenn man sich einen möglicherweise fremden Stoff neu erarbeiten will: Er hat sich mit der Oper von Georges Bizet, vor allem aber mit der Grundlage des Mythos, der Novelle »Carmen« des französischen Autors Prosper Mérimée, auseinandergesetzt. Seinen ersten Eindruck beschreibt er so: »Als ich diese Geschichte zum ersten Mal las, fiel mir auf, dass sie vor allem von Gewalt handelt.« 

Wenn man daran denkt, wie schockiert auch das Publikum bei der Uraufführung der Oper »Carmen« von Georges Bizet im Jahre 1875 auf die ungewöhnliche Drastik und den tödlichen Ausgang reagierte, überrascht das nicht. Was bei Bizet, vor allem aber in der Novelle aus dem Jahre 1845 verstärkend noch hinzukommt, ist der raffiniert gestrickte Plot und die Erzählweise, die dem Leser suggerierte, dass die beschriebenen Vorgänge nicht nur aus erster Hand berichtet werden, sondern sich auch wirklich so zugetragen haben. Gestützt wurde dieser Eindruck dadurch, dass die Novelle in der französischen »Revue des Deux Mondes« erschien – einer etablierten seriösen Zeitschrift, in der dem Pariser Leser Erlebnis- und Reiseberichte aus »exotischen« Landen geboten wurden.

Blinde Leidenschaft und zermürbende Rachegelüste

Für die literarische Figur der Carmen und das damit verbundene Frauenbild hatte dies Konsequenzen. Prosper Mérimée – und auch Bizet – zeigen Carmen als den damals aktuellen Frauentyp der »Femme fatale«. Dass die so genannte Femme fatale eine männliche Fiktion ist, muss nicht extra betont werden. Ausschlaggebend ist, dass bis zu »Carmen« die Femmes fatales in Literatur, Dichtung und Malerei auch immer deutlich als Angst-Lust-Fantasien zu erkennen waren: Eine Salome, die Sphinx, Pandora oder Sirenen waren nicht real. 

Ihnen allen ist gemein, dass der Mann sich ihrer rätselhaften, erotischen Macht unwiederbringlich ausgeliefert sieht – und zum fatalen Opfer dieser für ihn tödlichen Frau wird.

Bei »Carmen« wird durch die Umdeutung der literarischen Fiktion eine Tatsachenbehauptung. So gelesen, ist der Typ der Femme fatale Realität, und der Mann auch dann noch Opfer der Frau, selbst dann, wenn nicht der Mann, sondern die Frau ermordet wird ... Wie der Mann – Don José – zum Opfer vielleicht weniger Carmens als vielmehr seiner Gefühle wird, das beschreibt Mérimée allerdings auch. Und Inger nimmt diese doppelte Perspektive auf: »In meinem Ballett steht nicht allein die weibliche Hauptfigur Carmen im Mittelpunkt der Geschichte. Wie in Prosper Mérimées Original konzentriert sich das Stück auf Don Josés Liebeskummer. Er ist unfähig, den Freiheitsdrang seiner Geliebten zu ertragen, und wird getrieben von blinder Leidenschaft und zermürbenden Rachegelüsten.«

Ein gesellschaftliches Drama

Des Weiteren suchte Inger nach einem Vehikel, um seinen »naiven« Blick auf das Geschehen zu etablieren und fügte der Geschichte eine neue Figur hinzu: »Ich wollte aus dem universalen Mythos Neues schaffen und habe mich dazu entschieden, mich auf die entstehende Gewalt zu konzentrieren. Eine Annäherung an das Thema wollte ich mithilfe einer reinen, unberührten Sichtweise zuganglich machen: der eines Kindes. Es ist eine Figur, die uns dazu bringen soll, einerseits das Geschehen mit unschuldigem Blick zu beobachten, die uns andererseits aber auch dazu zwingt, Zeuge davon zu werden, was die Gewalt wiederum mit diesem Kind macht.« Die Dreiecksbeziehung zwischen Carmen, Don José und dem Torero ist nicht nur eine private Liebestragödie – sondern ein gesellschaftliches Drama. Das Paradoxe der Kunst ist, dass sie uns immer wieder dazu »verführt«, uns das Tragische und Schreckliche des menschlichen Daseins zu vergegenwärtigen. Der Tanz verfügt hier über ganz besondere Möglichkeiten – rührt er doch unmittelbar über Rhythmus, körperliche Präsenz und Direktheit an Sinne und Emotionen. Besonders bei einem Stoff wie »Carmen«, bei dem der Tanz auf das Engste mit der Figur verbunden ist. Bereits bei Mérimée tanzt und singt die »Zigeunerin« Carmen unentwegt und vermittelt dadurch ihre Lebensfreude, provozierende Erotik und Sinnlichkeit. Und entgegen der landläufigen Meinung ist es auch nicht Bizet gewesen, der den Stoff für die Bühne entdeckt hat.

Kein Geringerer als Marius Petipa war es, der während seiner Zeit in Spanien von 1843 bis 1846 das erste Carmen-Ballett mit dem sprechenden Namen »Carmen et son toréro« kreiert hat. Seither haben sich immer wieder bedeutende Choreografen von Roland Petit über John Cranko zu Antonio Gades, Mats Ek oder Carlos Acosta mit dem Thema auseinandergesetzt. Und spätestens seit der Uraufführung des »Carmen«-Balletts von Alberto Alonso zur Musik von Rodion Schtschedrin, mit der legendären Maya Plissezkaja als Carmen 1967 in Moskau, gibt es auch eine veritable Ballettmusik zu »Carmen«. Rodion Schtschedrin arrangierte Bizets Musik neu für Streicher und insgesamt 47 Schlaginstrumente, und verstand es so, nicht nur die Abläufe zu verdichten, sondern vor allem den Melodien und Atmosphären Bizets eine elementare und treibende Wucht zu verleihen. Auch Johan Inger choreografiert seine »Carmen « hauptsächlich zu Ausschnitten aus der »Carmen-Suite« von Schtschedrin. Um aber zusätzlich Raum für seinen Blick auf Don José zu bekommen, bat er den spanischen Komponisten Marc Álvarez um neu komponierte Sequenzen. Alvarez stellte sich der Herausforderung, im Kontrast zu Bizets weltberühmten Melodien und Schtschedrins energiegeladener Rhythmisierung eine eigene Klangsprache zu etablieren; seine Komposition bietet emotionale Klang-Räume für die introspektiven Sequenzen. »Meine Musik sollte einen anderen Teil der Geschichte beschreiben, jenen kaum sichtbaren, den Geist der Figuren, die das Drama spiegeln. Ich musste begreifen, wie Carmen, Don Jose und die anderen denken.« Von dieser neuen Sicht auf den bekannten Stoff erzählt »Carmen« in Dresden – eindringlich, intensiv, anders.

Johann Casimir Eule

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