Saul: Eine Geschichte der Entmachtung

Der Regisseur Claus Guth über seine Inszenierung von Händels Oratorium Saul

Gespräch
Benedikt Stampfli

Händels Saul handelt von Machtverlust, Rache aber auch von Liebe. Was interessiert Sie besonders an dieser Geschichte?

Claus GuthSaul ist ein Extremfall. Händel schrieb das Oratorium 1737, als er gerade eine heftige Krise überstanden hatte, die mit körperlichen Schmerzen, Verwirrung und Lähmungserscheinungen einherging. Mit dem Oratorium Saul, das sich sehr stark mit Grenzerfahrungen beschäftigt, fand Händel wieder zu seiner Kreativität zurück.

Es gibt in diesem Werk rein musikalische Aspekte, die es revolutionär machen. Hier ist vor allem das Glockenspiel interessant, das eines der ersten Instrumente ist, das man hört. Einem Mythos zufolge wurde es von einem Schmied erfunden, als er bei der Arbeit mit Metallstücken plötzlich Musik erzeugte. Der Librettist des Saul, Charles Jennens, bemerkte in einem Brief, Händel habe vor, den armen König Saul mithilfe des Glockenspiels in den Wahnsinn zu treiben.

Bei Saul ist die Musik selbst ein Thema. Welche Wirkung hat Musik? Musik treibt Saul in den Wahnsinn, Musik kann auch beruhigen und heilen. Es gibt hier sehr explizite Hommagen an einzelne Instrumente.

Sie inszenieren Opern aus der ganzen Bandbreite des gut 400-jährigen Repertoires. Was ist das Einzigartige, wenn man sich mit Händels Musik auseinandersetzt?

Händel ist für mich immer ein unfassbares Phänomen, mit dem ich mich weiter beschäftigen werde – gerade in den Oratorien ist der Reichtum an musikalischen Farben unglaublich, und zwar nicht um des Effektes Willen, sondern in tiefster psychologischer Notwendigkeit. Wenn Händel sich eines Themas annimmt, entstehen Kunstwerke von geradezu archaischer Wucht, die zugleich unglaublichen Groove haben, der mich immer wieder sehr bewegt.

Saul ist ein Oratorium, das Sie am Theater an der Wien in Szene gesetzt haben. Es war nicht das erste Mal, dass Sie einem Oratorium eine Bildsprache geschenkt haben. Was reizt Sie daran, Oratorien auf die Bühne zu bringen?

Bei einem Oratorium hat der Regisseur die Möglichkeit, nicht nur ganz eng dem Plot zu folgen, sondern immer wieder in die Distanz zu gehen und frei zu dem Stoff zu assoziieren. Das ergibt sich aus der Form des Oratoriums, das nicht geradlinig eine Geschichte verfolgt, sondern immer wieder scheinbare Umwege geht und Exkurse macht, die aber durchaus zielführend sind.

Saul kurz gefasst

Saul wird als junger Mann von Gott erwählt und vom Propheten Samuel zum ersten König von Israel gesalbt. Er ist ein erfolgreicher Feldherr, und sein Volk verehrt ihn. In der Schlacht gegen die Philister hat der Hirte David den Riesen Goliath besiegt und kehrt triumphierend heim. Davids Erfolg endet jedoch schlagartig, denn König Saul sieht in ihm einen Konkurrenten um den Thron. An Davids Seite ist Sauls Tochter Merab, die sich nach anfänglicher Missgunst nun vollkommen von David in den Bann gezogen fühlt. Saul unternimmt alles, um David zu töten, doch dieser genießt göttlichen Schutz. Am Ende stirbt Saul selbst und David wird zum neuen König gekrönt.

Welche Rolle spielte bei Ihnen die biblische Vorlage, als Sie sich auf Saul vorbereitet haben?

Der Stoff hat sehr viel mit Händels Jephtha zu tun, das ich in Amsterdam inszeniert habe. Die Geschichte von Jephta und seiner Tochter stammt aus dem Buch der Richter, darauf folgen im Alten Testament fast direkt die zwei Bücher Samuel, die den Themenkreis um Saul und David beinhalten. Hier wird beschrieben, wie das Volk Israel seine Sehnsucht nach einem eigenen König artikuliert, so wie andere Staaten auch. Der Prophet Samuel wird beauftragt, einen König zu salben. Saul, der Sohn eines reichen Bauern, wird auserwählt und zum ersten König von Israel ernannt. Dazu findet man in der Bibel ausführliche Texte, die uns sehr inspiriert haben bei der Arbeit. Irgendwann schlägt die politische Situation Sauls um, und er bekommt Gegenwind von seinem Volk. Da erscheint David wie aus dem Nichts, ein Bauernsohn, der sogleich von Sauls Tochter Merab als ungenügend und von niederem Stand abgelehnt wird.

Wie bei King Lear von William Shakespeare wird die Titelfigur vom Wahn gepackt. Welche Bedeutung hat der Wahn für Ihre Lesart?

Ja ... der Wahn, der Neid, das Alter, in diesem Stoff kommen verschiedene Zustände zusammen. Es ist interessant, dass in dem Oratorium diese Phänomene vom Chor wie personalisiert beschrieben werden, wie in einer Allegorie, einer barocken bildhaften Übersetzung. Diese Themen lassen sich auch – jenseits der Allegorie – kleiner dimensionieren und auf das eigene Leben übertragen, auf das Älterwerden und die Frage, was passiert, wenn eine neue Generation in Erscheinung tritt und ihre Position behauptet.

Das Phänomen des Aus-dem-Gleichgewicht- Geratens hat Händel nicht nur anhand der Figur des Saul exemplifiziert. Bei der Tochter Merab beispielsweise finden sich Anzeichen davon, als sie aus der Zurückweisung einen Hassanfall auf David bekommt, ein Wahn, unter dem sich ihre Liebe versteckt. Auch David, wie wir aus der Bibel wissen, tritt später etwas Wahnhaftes an die Seite, und er wird von Gott gestraft. Ebenso die blinde Verehrung Jonathans oder des Kollektivs für David hat wahnhafte Züge.

Wie würden Sie die Dramaturgie dieses Oratoriums beschreiben?

Saul ist zu verstehen als präzise Studie eines Staates, aber auch einer Familie, in die ein Außenstehender, ein Fremdkörper eindringt und alles zur Explosion bringt. Es wird in meiner Interpretation darum gehen, wie mit einer Lupe auf den Stoff zu schauen. Wie lassen sich in höchster Präzision die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte erfassen und Schritt für Schritt ihre fast mathematische Logik nachvollziehen?

Saul erzählt die Geschichte einer Entmachtung, die nicht durch einen göttlichen Befehl geschieht, sondern eher wie durch ein Naturgesetz. Etwas läuft aus und etwas Neues kommt. Diesem Kreislauf kann man sich entweder devot hingeben oder sich ihm entgegenstellen. Das kann ungeheuerliche Energien erzeugen.

Saul

Premiere am 1. Juni 2025
Vorstellungen: 3., 13, 20., 25., 29. Juni, 2. Juli & 
28. August, 11., 14. September 2025

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