„Aus der Gewalt des Jägers wird die Macht des Hirten.“

Über die Wechselwirkung von Macht und Gier

„Meinst Du, dass ich mich vor Dir fürchte? Ich fürchte mich vor nichts als vor dem Unheil, das in mir selbst ist. Diese Töne sagen Dir die Wahrheit. Doch Du hast ja gewollt, dass ich hierher trete und spiele. Die Kunst ist gut, und die Wahrheit tönt süß, nur muss man sie nicht hassen, sondern willkommen heißen. Man muss nicht die edlen Regungen und die weichen Stimmen töten wollen und den Hass leben lassen. Damit tötet man sich selbst, rottet das eigne Leben aus. Man muss Geduld haben, denn auf ihr ruht alles. Wer sich mit sich selbst aussöhnt, verbündet sich mit allen andern, und dann gibt es keinen Gegner mehr. Wenn alle sich mit sich selbst verständigt haben, so hat niemand mehr einen Gegner. Dann ist alles versöhnt und der Friede ist gesichert.“

Mit diesen Zeilen beschrieb Robert Walser Rembrandts Gemälde Saul und David und macht deutlich: Das größte Unheil steckt in uns selbst, doch wir Menschen wollen das nicht wahrhaben. Wären wir mit uns im Reinen, so gäbe es keine Feinde mehr. Diese vielleicht utopisch anmutende Friedensformel lässt jedoch außen vor, dass es Herrschende gibt, die ihre Macht ausnutzen und durch ihr oft egozentrisches Regieren das Volk manipulieren, geschweige denn, ihm als Souverän ein Mitspracherecht attestieren. Sprich: Kann ich mir als Untergebener Gehör verschaffen? Von Gier getrieben, lässt sich somit im Alter auch schwierig eine geregelte Machtübergabe garantieren, denken wir an König Lear, der wie Saul scheitert und auch wahnsinnig wird. Wer meint, dass dies heutzutage nur in autokratischen Staaten ein Problem sei, der wurde am 6. Januar 2021 Zeuge, dass auch in einer Demokratie der Versuch unternommen werden kann, den Willen des Volkes zu übergehen. Beim sogenannten „Sturm auf das Kapitol“ in Washington akzeptierte der scheidende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, das Resultat der Präsidentschaftswahl nicht und stachelte seine Wählerschaft an, um mit Gewalt eine weitere Amtsperiode mit ihm an der Spitze durchzusetzen, was ihm gottlob nicht glückte.

David, der vermeintlich Schwächere, siegte nicht aufgrund militärischer Überlegenheit, sondern die Reinheit seiner Seele war dafür ausschlaggebend. Deshalb machte ihn Gott zu seinem Werkzeug. Der junge Hirte David erschlägt mit einer Steinschleuder den Riesen Goliath; religionspolitisch gedeutet: Der Gläubige siegt über den Gottesleugner. Das ist die Ausgangslage von Händels Oratorium Saul. Auch wenn die Positionen geklärt scheinen – König Saul ist Herr und David Knecht –, überschattet diese überwältigende Tat die Freundschaft der beiden. „Saul hat seine Tausende geschlagen, David aber seine Zehntausende“, steht in der biblischen Vorlage geschrieben. König Saul hat Angst vor David, der vom Volk gefeiert wird, und entwickelt großen Neid. Ihre Beziehung ist getrübt, denn ob Thronfolgerfehden oder Kanzlerkandidaten, Königinnen, Hauptdarsteller* innen oder Spielemacher, es kann eben dann doch nur einen oder eine geben. Um nicht Schwäche zu zeigen, ist Angriff das beliebteste Mittel. Und so versucht Saul, seinen Konkurrenten, der selbst keine Machtansprüche geäußert hat, loszuwerden. Er stachelt das Volk an, populistisch sucht er nach Gründen, um David zu jagen. Doch bekanntlich scheitert er und wird selbst zum Gejagten –so wie es Elias Canetti in Masse und Macht auf den Punkt bringt: „Aus der Gewalt des Jägers wird die Macht des Hirten.“ David hat nun die Macht, doch er tötet seinen Feind nicht, sondern salbt ihn.

Wie eingangs von Robert Walser so trefflich in Worte gefasst, kann die Gewaltspirale von jedem von uns selbst gestoppt werden. Oder in anderen Worten schrieb Theodor W. Adorno in seiner philosophischen Schrift Minima Moralia: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“