„Ich schätze jede Note dieser Partitur“

Im Gespräch mit der Dirigentin Karen Kamensek

Karen Kamensek, Grammy-Preissträgerin für ihre Einspielung von Philipp Glass’ Akhnaten mit der Metropolitan Opera New York, ist eine der vielseitigsten Opern- und Konzertdirigentinnen unserer Zeit.
© Yossi Zwecker

Die Musikwelt ist sich nicht einig, zu welchem Genre Candide gehört – ist es Oper, Musical, Revue, Operette? Bernstein selbst bezeichnete es als „comic operetta“. Wie würden Sie dieses Werk einordnen?

Wenn der Komponist es selber sagt … Allein mit den verschiedenen Fassungen, der Menge an Szenen und der besonderen Dramaturgie ist es vielleicht ein bisschen von allem. Vor allem ist es großartig!

Passend zu der satirischen Vorlage von Voltaire zeichnet sich Bernsteins Musik durch einen ganz eigenen Witz und Spritzigkeit aus. Wie schafft er das?

Manches kommt einfach durch die Instrumentierung, die Wortspiele und die musikalischen Kommentare oder Satzbezeichnungen vom Orchester, wie z. B. der famose „boom-chink!“-Effekt am Ende eines Satzes. Oder es kann auch durch einen „Stinger Chord“ entstehen, wie man es so oft in Filmen erlebt.

Bernstein selbst hat seine Musik für Candide als „eine Valentinskarte an Europa“ bezeichnet. Und tatsächlich gibt es passend zu der absurden Abenteuerreise Candides jede Menge Anspielungen, Pointen, unterschiedliche Musikstile, auf die er zurückgreift – könnten Sie dafür ein paar Beispiele nennen?

Ach ja, da sind wirklich viele Einflüsse drin: von Rossini, Donizetti, Mozart, Ravel, Schostakowitsch, Verdi, Richard Strauss, Johann Strauss, Strawinsky und Copland. Inspiriert ist das Werk auch vom Vaudeville, den Latino-Clubs und dem Varieté der 50er und der Filmmusik. Das Genie Bernsteins liegt darin, dass er das alles selber so gut kannte, und er konnte alles so klug und fabelhaft mischen oder verstecken – oder wahlweise auch nicht. Dabei hat er seinen eigenen Stil behalten und ihn auch weiterentwickelt. Er war ein Meister! Die große Arie von Cunegonde „Glitter and Be Gay“ ist ein Beispiel. Eine große Hommage an die italienische „Aria“-Tradition, so wie die Königin der Nacht von Mozart oder Zerbinetta von Strauss. Oder das große Autodafé, was man schon in Verdis Don Carlo hat. Da sehe ich allerdings Monty Pythons The Holy Grail drin. Aber das kam viel später und ich wette, dass die von Bernstein beeinflusst worden sind.

Was schätzen Sie an Bernsteins Musik und an Candide besonders?

Das kann ich nur mit der Gegenfrage beantworten: Was schätzen Sie nicht an dieser Musik? Dann wäre meine Antwort: Nichts! Ich schätze einfach jede Note von dieser wunderschönen Partitur, die voller Seele, Ironie, Witz, Humor, Parodie und Leidenschaft ist. Jedes Mal finde ich etwas Neues darin und denke: „Wie habe ich denn DAS verpasst?“ So geht es einem oft bei guten Stücken. Und es ist eine große Freude für mich, Candide nun in der Semperoper Dresden zum Klingen zu bringen.