Who is Who?
Nijinsky
Gott des Tanzes, Selbstdarsteller, Revolutionär? Wer war Nijinsky?

weiterlesen
Vaslaw Nijinsky (1889–1950), der Star von Serge Diaghilews Ballets Russes, vermittelte ein Bild des männlichen Tänzers, wie es das Publikum noch nicht gesehen hatte: hochvirtuos, androgyn und verführerisch. Seine Leichtigkeit und Sinnlichkeit, die man bisher eher mit Ballerinen in Verbindung gebracht hatte, stellten traditionelle Geschlechterrollen infrage. Zudem war Nijinsky ein revolutionärer Choreograf: so lösten die Uraufführungen seines Sacre du printemps (1913) zu Igor Strawinskys Partitur und seines erotisch aufgeladenen L’Après-midi d’un faune (1912) Skandale aus. Nach Nijinskys Hochzeit mit Romola de Pulszky, die zum Bruch mit seinem Liebhaber Diaghilew führte, verbrachte er vor allem die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens in Nervenheilanstalten.
Neumeiers Ballett zeigt Nijinskys Erinnerungen an seine Familie, seine Tanzkarriere, sowie seinen beginnenden Wahnsinn und den ersten Weltkrieg.
Impresario und Liebhaber – Zur Person Diaghilev

weiterlesen
Der russische Impresario Serge Diaghilew (1872-1929) kombinierte in den Vorstellungen seiner Ballets Russes Tanz, Musik und Malerei auf dem höchsten Niveau zu Gesamtkunstwerken, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. 1909 brachte er erstmals eine Truppe von Tänzer*innen des Kaiserlichen Balletts in Sankt Petersburg nach Paris, wo sie unter dem Namen Les Ballets Russes sensationelle Erfolge feierte. In den darauffolgenden Jahren tourte die Kompanie durch Europa und Amerika. Zu den Stars der Ballets Russes gehörten Tamara Karsawina und Vaslaw Nijinsky, zu dem Diaghilev eine Liebesbeziehung hatte.
In Neumeiers Ballett erscheint Diaghilew als Erinnerung Nijinskys. Man sieht ihn zunächst als Förderer und Geliebten. Darauf folgen Szenen der Eifersucht, in denen Diaghilew Nijinsky zurückweist und aus seiner Truppe verbannt. Dieser Bruch wirkte sich sowohl auf Nijinskys Tanzkarriere als auch auf seine psychische Verfassung negativ aus.
Die Rose, die zum Flug abhebt

weiterlesen
1911 wurde Michel Fokines Ballett Le Spectre de la Rose (Der Geist der Rose) mit den Ballets Russes uraufgeführt. Die Musik stammte von Carl Maria von Weber, und Vaslaw Nijinsky tanzte die Titelrolle. Ganz mit Blütenblättern bedeckt, verkörperte er den Geist einer Rose, der einem Mädchen im Traum erscheint. Nijinskys Abgang, bei dem er mit einem Sprung durch das offene Fenster zu fliegen schien, löste eine Sensation aus. Nijinsky war für seine Fähigkeit bekannt, mitten im Sprung scheinbar in der Luft stehenzubleiben.
In Neumeiers Ballett erscheint der androgyne Rosengeist zunächst als Sehnsuchtsfigur von Nijinksys Förderer und Geliebtem Diaghilew, der an die Stelle des träumenden Mädchens tritt und mit dem Geist der Rose einige Passagen aus Fokines Choreografie tanzt. Danach taucht er mehrmals als Erinnerung an Nijinskys glanzvolle Karriere auf.
Goldener Sklave der Sinnlichkeit

weiterlesen
Michel Fokine schuf 1910 das Ballett Scheherazade zur Musik von Nikolai Rimsky-Korsakow für die Ballets Russes. In diesem Werk tanzte Vaslaw Nijinsky die Rolle des Goldenen Sklaven, der eine unverhohlene Sinnlichkeit ausstrahlte. In Fokines Ballett verfällt Zobeide, die Favoritin eines Sultans, dem Reiz des Goldenen Sklaven; beide bezahlen ihre Untreue mit dem Leben.
In John Neumeiers Ballett, dessen erster Akt überwiegend von der Musik von Scheherazade begleitet wird, rivalisieren Nijinskys Geliebter Diaghilew und seine spätere Frau Romola de Pulszky um den verführerischen Goldenen Sklaven. Romola ist sogleich fasziniert von ihm, wird aber von Diaghilew von ihm ferngehalten.
Nijinskys Tanzsprache: revolutionär, emotional, skandalös

weiterlesen
Nijinsky schuf einige innovative Choreografien: Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer) löste aufgrund seiner urtümlichen Handlung, des radikalen Bruches mit der klassischen Ballettästhetik und der archaisch klingenden Musik von Igor Strawinsky einen Skandal aus. Jeux zeigte Romanzen in einem Park rund um ein Tennisspiel, was zuvor nicht als ballettwürdiges Thema gegolten hatte. In L’Après-Midi d’un Faune, in dem Nijinsky die Rolle eines gehörnten Fauns inmitten dreier Nymphen tanzte, begegneten sich eine von griechischer Vasenmalerei inspirierte, „zweidimensionale“ Ästhetik und ein hocherotisches Thema – auch diese Uraufführung im Jahr 1912 endete in einem Skandal.
In Neumeiers Ballett taucht ein junger Tennisspieler aus Jeux mehrmals auf, und im zweiten Akt sieht man einen Ausschnitt aus Le Sacre du Printemps, zu dem Nijinsky auf einem Stuhl stehend den Rhythmus zählt. Erinnerungen an das Chaos der Premiere mischen sich mit Bildern von Soldaten im ersten Weltkrieg. Besonders präsent ist die Figur des Fauns als Sinnbild für Nijinskys Anziehungskraft: auf der Schiffsreise, auf der Nijinsky seiner späteren Frau Romola de Pulszky näher kommt, erscheint ihr statt des realen Mannes der attraktive Faun.
Eine schwierige Kindheit

weiterlesen
Nijinsky war der Sohn zweier polnischer Tänzer, Tomasz Nijinsky und Eleonora Bereda. Das Paar hatte drei Kinder, Stanislaw (1886), Waslaw (1889) und Bronislawa (1891). Im Jahr 1897 verließ der Vater seine Frau für eine andere Tänzerin. Wie ihre beiden Söhne Stanislaw und Vaslaw hatte Eleonora Bereda psychische Probleme; sie litt unter starken Depressionen.
Neumeiers Ballett zeigt Nijinsky zunächst im Kreis seiner Familie, seiner Eltern und beiden Geschwister. Gegen Ende erscheint der Vater wieder in der Gestalt des Arztes eines Sanatoriums, in dem Nijinsky behandelt wurde (beide Rollen werden vom gleichen Tänzer interpretiert). Dadurch deutet Neumeier die Parallelen zwischen dem Schicksal von Nijinsky und dessen Mutter an: Nijinskys Vater verließ Eleonora Bereda für eine andere Frau, und Romola de Pulszky hatte ein Verhältnis mit dem Arzt des Sanatoriums, was Nijinsky sehr kränkte.
Fragile frühe Bindungen – Nijinskys Geschwister

weiterlesen
Nijinsky hatte ein sehr enges Verhältnis zu seiner zwei Jahre älteren Schwester Bronislawa. Beide wurden an der kaiserlichen Ballettschule in Sankt Petersburg ausgebildet und widmeten sich dem Tanz und der Choreografie. Bronislawa schuf zahlreiche avantgardistische Handlungsballette wie Hamlet und semi-abstrakte Werke wie Les Biches, von denen einige noch heute aufgeführt werden. Nijinskys Bruder Stanislaw hatte mit drei Jahren einen schweren Unfall und litt seitdem unter schweren psychischen Problemen. Auch er wurde Tänzer, wurde aber mit 21 Jahren in ein Sanatorium eingewiesen und starb mit 32 Jahren.
In Neumeiers Ballett spielen Nijinskys Geschwister eine wichtige Rolle: Nijinsky erinnert sich sowohl an die glückliche Zeit, in der alle drei als Tanzschüler und Tänzer vereint und Teil einer noch funktionierenden Familie waren, als auch an Stanislaws fortschreitende Geisteskrankheit. Die Konfrontation mit dem Wahnsinn und Leid seines Bruders löst in Nijinsky Trauer und Schuldgefühle aus; Stanislaws Schicksal spiegelt den Zerfall seiner eigenen inneren Welt.
Vaslaw und Tamara: das Traumpaar der Ballets Russes

weiterlesen
Nijinsky studierte an der kaiserlichen Ballettschule in Sankt Petersburg zusammen mit Tamara Karsawina. Beide tanzten am Mariinsky-Theater und wurden später zu Startänzern der Ballets Russes. Viele bedeutende Rollen wurden für Nijinsky und Karsawina kreiert, beispielsweise die Sylphide und der Poet in Chopiniana (1909, auch bekannt als Les Sylphides), Petruschka und die Ballerina in Petruschka (1911), und der Geist der Rose und das Mädchen in Le Spectre de la Rose (1911, alle von Michel Fokine).
In Neumeiers Ballett erscheint Karsawina immer wieder als Erinnerung an die Höhepunkte seiner tänzerischen und choreografischen Karriere: als Sylphide in Chopiniana, als Nymphe in L’Après-Midi d’un Faune und schließlich als Ballerina in Petruschka.
Auf Hochzeit steht Rauswurf

weiterlesen
Die ungarische Adelige Romola de Pulszky sah Nijinsky 1912 bei einer Vorstellung der Ballets Russes und war augenblicklich tief beeindruckt von ihm. Sie bemühte sich, dem Tänzer näherzukommen, nahm Tanzstunden mit den Ballets Russes und begleitete die Truppe auf Tourneen. Bei einer Schiffsreise im Jahr 1913 kamen die beiden zusammen und heirateten kurz darauf in Buenos Aires. Als Diaghilew von der Hochzeit erfuhr, warf er Nijinsky kurzerhand aus seiner Truppe, wodurch Nijinskys Tanzkarriere einen schweren Einbruch erlitt. Er wurde als Tänzer und Choreograf der Ballets Russes von Léonide Massine ersetzt.
In Neumeiers Ballett erscheint Romola zunächst als zentrale Figur bei Nijinksys letztem öffentlichen Auftritt im Suvretta House. Dann sieht man die Entwicklung ihrer Liebesgeschichte mit Nijinsky, über Romolas erste faszinierte Blicke auf den Tänzer über den Beginn ihrer Beziehung auf der Schiffsreise bis zu ihrer Heirat, sowie ihren späteren Kampf um den psychisch schwer erkrankten Nijinsky.
„Der größte Schauspieler der Welt!“

weiterlesen
Im Jahr 1911 tanzte Nijinsky erstmals die Rolle des traurigen Clowns Petruschka, der von einem bösen Magier gefangen gehalten und auf dem Jahrmarkt in einem Puppentheater zur Schau gestellt wird. Er verliebt sich in die Ballerina, wird aber getötet, und sein Geist verfolgt den Magier. Die Choreografie stammte von Michel Fokine, die Musik von Igor Strawinsky. Bei der Premiere des Balletts sagte die berühmte französische Schauspielerin Sarah Bernhardt über Nijinsky: „Ich habe Angst, denn ich sehe den größten Schauspieler der Welt“.
Petruschka steht für einen Menschen, der von unverständlichen grausamen Mächten gequält wird. Deswegen erscheint er in Neumeiers Ballett erst im zweiten Akt, der von Nijinskys Leiden und vom ersten Weltkrieg handelt. Er tritt plötzlich als Vision Nijinskys inmitten einer Gruppe von Kriegsopfern auf und tanzt ein Solo, das Nijinskys Fassungslosigkeit und Schmerz über den Wahnsinn der Welt ausdrückt. Später wird Petruschka Teil eines schreienden und irre lachenden Schlachtgewimmels. Diese Szene symbolisiert die vollkommene Auflösung von Nijinskys Psyche, in der Bilder seiner Vergangenheit und des Krieges zu einem apokalyptischen Chaos verschmelzen.
Nijinsky
John Neumeier
Vorstellungen
18., 23., 25., 29. Januar 2026 &
1., 9., 10. Februar 2026