Auf der anderen Seite der Gewalt

Aufzeichnungen von Aleksi Barrière

„Es soll hier nicht soviel von Blut gesprochen werden ... und deshalb wird hiermit aufs Fernsehen und aufs Kino verwiesen .“

Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum, 1974
Zitiert in Aleksi Barrières Musiktheaterstück Violences, 2019

Im Frühjahr 2013 lud Kaija Saariaho mich und Sofi Oksanen zu einem Abendessen ein. Sie hatte vom Royal Opera House London den Auftrag erhalten, eine von der modernen Welt inspirierte Oper zu schreiben, und war sehr gespannt darauf, zum ersten Mal ein Werk für die Bühne zu komponieren, das ihrer Meinung nach zahlreiche Charaktere, Sprachen und Perspektiven zu ein und demselben Ereignis enthalten sollte. Kaija nannte das Projekt Fresco. Dafür brauchte sie eine virtuose Geschichtenerzählerin, die sich der Komplexität unserer Welt durch sorgfältig ausgearbeitete Charaktere nähern konnte: Sofi. Außerdem brauchte sie einen Dramaturgen und Übersetzer, der sich mit Opern auskennt, denn Sofi sollte ihr erstes Opernlibretto schreiben, und zwar auf Finnisch, während das endgültige Werk mehrsprachig sein sollte. So landete ich bei diesem ersten Abendessen und versuchte, Sofis erste Frage zu beantworten: Welches Thema ist noch nicht in einer Oper behandelt worden?

Natürlich ging es bei dieser Frage um mehr als den Reiz des Neuen. Über die gesamte Bandbreite menschlicher Erfahrungen wurden Opern geschrieben: Liebe, Eifersucht, Ehrgeiz, Götter, Tyrannen, Mörder, Vergewaltiger, Sklaven, Rebellen. Auf welches zeitgenössische Phänomen könnten wir die Werkzeuge der Oper anwenden, um unser Verständnis für die Art und Weise zu erweitern, wie Menschen Schmerz verursachen, empfinden und überleben?


innocence


Drei Künstler*innen, drei Generationen, drei Formen des Ausdrucks. Während unserer Gespräche wuchs die Liste der möglichen Themen. Sofi hatte kürzlich ihren Roman Als die Tauben verschwanden (2012) veröffentlicht, in dem estnische Personen den Zweiten Weltkrieg und unterschiedliche Regierungswechsel überleben, indem sie kämpfen oder sich anpassen, andere und sich selbst belügen. Kaija komponierte gerade eine Oper, die auf einem Nō-Stück über einen Krieger basiert, dessen traumatisierter Geist von den Lebenden ein Ritual verlangt, um endlich Frieden zu finden (Only the Sound Remains, 2016). Ich hatte gerade eine Aufführung der Kindertotenlieder inszeniert, bei der Mahlers Lieder übertragen wurden auf den Tod von Kindern im Zuge der Schießerei an der Sandy Hook Elementary School und sich auf die Trauer der Eltern konzentriert (Tu ne dois pas garder la nuit en toi, 2013).


Unschuld


Fresco war etwas völlig anderes als unsere anderen Projekte zu dieser Zeit, dachten wir. Doch die Fragen, die jeden von uns beschäftigten, führten ein geheimes Gespräch wie die Wurzeln der Bäume unter der Erde. Im Laufe unserer Diskussionen arbeitete Sofi an einer originellen Geschichte über die Enthüllung eines verborgenen Verbrechens aus der Vergangenheit bei einer Familienfeier; sie nannte sie The Uninvited Guest (Der ungeladene Gast). Kaija hatte eine konkrete Idee für ein Gruppenfresko im Stil von Leonardo da Vincis Das letzte Abendmahl, und Sofi zeichnete eine Assoziation zwischen diesem Bild und Hochzeitsfotos, auf denen feierliche Gesichter geheime Familiendramen verbergen.


inocencia


Die Struktur, die Sofi aufgebaut hat, ähnelt der vieler ihrer Romane: Das Zusammenspiel zweier ineinandergreifender Zeitlinien oder Erzählebenen setzt eine Reihe von Enthüllungen in Gang und bereichert allmählich unser Verständnis für die einzelnen Figuren. Die Umsetzung des Handlungsbogens in diesem neuen Werk ist, vielleicht auch aufgrund der Dichte der Librettoform, eine von Sofis raffiniertesten Leistungen als Autorin. Die Figuren bildeten sich immer mehr heraus, während meine Übersetzungen fertiggestellt wurden und im Sommer 2016 per E-Mail zwischen uns Dreien zirkulierten. Sofi feilte am Text, und Kaija nutzte Tonaufnahmen der Übersetzungen, um eine melodische und harmonische Sprache für jede Figur zu entwickeln, aus der dann die restliche Musik der Oper entsprang.


αθωότητα


Unsere Entscheidung, bestimmte Rollen mit Schauspieler*innen, statt mit Sänger*innen zu besetzen, ermöglichte sowohl eine umfangreichere Verwendung des Textes als auch neue Möglichkeiten für Kaija, diesen in die Musik einzuweben. Das Werk war nicht mehr nur Fresco, eine abstrakte polyphone Form, und nicht einfach The Uninvited Guest, das Dilemma des Einzelnen im Verhältnis zu einer Gruppe. Wir brachten Innocence (Unschuld) zur Welt, ein Drama über Schuldgefühle und Selbstvorwürfe von 13 Menschen, von denen jeder der isolierte Gefangene seines eigenen Traumas ist, die aber gleichzeitig durch ein gemeinsames Trauma verbunden sind. Menschen werden von Sprachen ebenso isoliert, wie sie durch sie auch zusammengeführt werden. In Innocence verbinden sich Text und Musik durch die vielen Sprachen zu einer Erkundung der vielschichtigen Trostlosigkeit unserer Welt. Als das Werk im Sommer 2020 inmitten pandemischer Einschränkungen zum ersten Mal geprobt wurde, erwies es sich als ebenso wichtig wie herausfordernd, eine Oper zu schaffen, die von ihrem Wesen her Künstler* innen verschiedener Sprachen und Disziplinen zusammenbringt, um etwas Gemeinsames zu schaffen. Das Medium ist hier nicht nur Botschaft, sondern auch Methode.


oskuld


Wie beantwortet dies nun Sofis ursprüngliche Frage, ein neues Thema mit den Werkzeugen der Oper und der Sprache zu behandeln? Sofi entwickelte mit ihrem Libretto die richtige Antwort. Am Beispiel einer Schulschießerei und einer Fülle von Rollen zeigt sie, wie vielfältig und durchaus strukturell die Entstehung von Gewalt ist. Eine Bluttat, die von einem jungen Menschen begangen wird, gilt immer als „unerklärlich“, als „Tragödie“, wie es im Libretto heißt. Sofis Text erinnert an die oberflächliche öffentliche Debatte, die nach den Amokläufen von Columbine, Kauhajoki, Dunblane oder Erfurt geführt wurde: Es wird viel über Jugendgewalt, über die Anschaulichkeit von Filmen und Videospielen und manchmal über die Verfügbarkeit von Waffen gesprochen. Dies sind Faktoren, mit denen wir uns als Gesellschaft besser auseinandersetzen könnten und sollten.


inocența


Weitergehende Fragen bleiben jedoch Tabuthemen. Diese Tabus ergeben sich aus unserem starren Verständnis dessen, was unter die Verantwortung des Einzelnen fällt, aus Problemen, die wir nicht als gesellschaftliche Probleme betrachten – wie etwa die psychische Gesundheit – und aus der stummen Gewalt, die von Arbeitsplätzen, Familien und Gesellschaften ausgeht. Innocence zeigt, wie problematisch unsere Entscheidungen sein können, wenn wir unsere eigenen Werte und Motive nicht hinterfragen und wenn wir uns verbissen an bequeme Rollen und Erzählweisen klammern. Mit ihren 13 Charakteren, die von Einsamkeit und Verbundenheit erzählen, erinnert uns die Oper daran, wie wichtig es ist, verborgene Geschichten ans Licht zu bringen und in den öffentlichen Diskurs aufzunehmen: alle Geschichten und ihr Zusammenspiel sichtbar zu machen.


viattomuus


„Gesellschaftliche Narrative binden individuelle subjektive Deutungen an größere kulturelle und institutionelle Narrative. (...) Die Soziologin Margaret Somers bezeichnet das Fehlen dieser Geschichten als ‚narratives Schweigen‘. Wenn ein Individuum keine passende allgemein bekannte Geschichte für sich selbst findet, ist es für dieses Individuum schwierig, seine eigene Subjektivität aufzubauen.“ (Sofi Oksanen, Too Short a Skirt) Nur in einem mehrsprachigen musikalischen Werk für die Bühne ist es möglich, so viele Geschichten und Interaktionen polyphon zu verflechten. Der künstlerische Ausdruck hat jedoch nicht nur die Aufgabe, allgemein bekannte Narrative und unsere Auseinandersetzungen mit ihnen darzustellen, er muss auch darüber nachdenken, wie sie dargestellt werden sollten. Wie Studien gezeigt haben, schwelgen Amokläufer von Schulen oft in Bildern, die von der Filmindustrie zu diesem Thema geschaffen wurden, ebenso wie Militärangehörige gerne Szenen aus Kriegsfilmen sehen und zitieren, selbst aus solchen, die eine pazifistische Haltung vertreten.

Wie kann die Kunst also vermeiden, Gewalt zu tolerieren, zu normalisieren oder gar zu fördern, während sie sie gleichzeitig abbildet? In der Entwicklungsphase von Innocence war die früheste und vielleicht radikalste Entscheidung, die wir getroffen haben, die physische Gewalt – die Schießerei und sogar den Schützen selbst – aus dem Text und der Musik auszuschließen und stattdessen die Geschichten und Stimmen in den Mittelpunkt zu stellen, die in einer Gesellschaft, die in Spektakel verliebt ist, weniger sichtbar sind. Indem sie sich auf die langsameren Phasen des Trauerns und der Heilung konzentriert, umfasst Kaijas Musik die psychologische Realität von Erinnerung, Trauma, Verdrängung und Akzeptanz. Die assoziative Logik des Traumzustands ist wahrhaftiger – und auch fesselnder – als der Nervenkitzel eines pseudorealistischen Spektakels.


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Zusammen mit dem Choreografen Arco Renz hat der Regisseur Simon Stone [der Regisseur der Uraufführung] eine Methode entwickelt, um das Trauma in den Mittelpunkt zu stellen und ihm physische Realität zu verleihen. Als geschickter Bildgestalter hat Simon aber auch versucht, die Erwartungen der Zuschauer*innen an sichtbare Gewalt zu manipulieren, und Teil seines Prozesses war es, die physische Gewalt und das Aussehen des Amokläufers sorgfältig zu dosieren.


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Es wäre interessant, in Zukunft eine Inszenierung zu sehen, die das Grundprinzip von Text und Musik vollständig übernimmt und die makabre Faszination für Gewalt, die die Massenmedien in uns kultiviert haben, völlig ablehnt. Als Kunstform hat das Theater die Pflicht, nicht nur die Mainstream-Bilder zu kritisieren, sondern auch neue Bilder zu entwickeln, die im homogenisierten öffentlichen Raum fehlen. Diese Oper ist eine Einladung und ein Werkzeug in diese Richtung. Für uns, die wir Innocence gemeinsam entwickelt haben, ist sie eine Fortsetzung und ein Höhepunkt unserer bisherigen Arbeit. Vor allem hoffen wir, dass diese Oper andere dazu inspiriert, die fehlenden Narrative, die wir brauchen, sichtbar zu machen, und zu vielen schwierigen und notwendigen Gesprächen anregt.


Aleksi Barrière ist der Dramaturg und Übersetzer von Innocence und verantwortlich für die mehrsprachige Fassung des Librettos. Er ist außerdem Regisseur und künstlerischer Leiter des Musiktheaterkollektivs La Chambre aux échos und ein Spezialist für innovative Formen interdisziplinären und interkulturellen Schaffens.