Vice Versa: ein neues Kapitel nach 200 Jahren Semperoper Ballett
Choreografische Avantgarde, aus der Tradition geschöpft
Mit dem zweiteiligen Ballettabend Vice Versa blickt das Semperoper Ballett, das im Jahr 2025 seinen 200. Geburtstag feiert, abermals in die Zukunft des Tanzes. Bereits in der Uraufführung Tag Team im Geburtstagsmonat April, die drei zeitgenössische Choreograf*innen auf der Bühne von Semper Zwei für die Kompanie schufen, ging es darum, basierend auf der Tradition ein neues Kapitel der Geschichte des Semperoper Ballett zu schreiben. In Vice Versa begegnen sich ein sehr etablierter Künstler des zeitgenössischen Tanzes, Sidi Larbi Cherkaoui, und ein junges, international gefragtes kreatives Duo, die Geschwister Imre und Marne van Opstal. Ersterer zeigt sein Erfolgsstück Noetic, das 2014 in Göteborg uraufgeführt wurde, letztere schaffen mit November eine Uraufführung für das Semperoper Ballett. Alle drei Choreograf*innen sind neu im Repertoire des Semperoper Balletts. Obgleich sie für die choreografische Avantgarde stehen, reflektieren einige Aspekte ihrer Stücke die Geschichte des Balletts im Allgemeinen und der Dresdner Kompanie im Besonderen.
Sidi Larbi Cherkaouis zunächst ungewöhnlich erscheinende Idee, in Noetic einen Musiker und eine Sängerin auf die Bühne zu stellen und gesprochene und gesungene Texte zu verwenden, erinnert an die Hofballette beispielsweise unter dem französischen König Ludwig XIV., der 1669 in Paris die erste Ballettkompanie der Geschichte gründete. In diesen barocken Hofballetten traten Sänger*innen und Tänzer*innen gemeinsam auf und es gab gedruckte Libretti, die während der Vorstellung gelesen wurden. Darüber hinaus erscheinen in Noetic Männer in Frauen- und Frauen in Männerkleidern, was in der Ballettgeschichte häufig geschah. Ein Beispiel ist die Uraufführung von Léo Delibes’ Ballett Coppélia (1870), das 1901 auch an der Semperoper getanzt wurde und dessen männliche Hauptrolle von einer Dame en travesti interpretiert wurde. Schließlich erinnert die Konzeption sowohl von Noetic als auch von November als Gesamtkunstwerke, in denen die Bühnenbilder eine außerordentlich bedeutende Rolle einnehmen und teilweise eigens komponierte Musik renommierter Komponisten verwendet wird, an die Ballets Russes, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts an der Semperoper gastierten.

Noetic © Semperoper Dresden/Admill Kuyler

November © Semperoper Dresden/Admill Kuyler
Auch von der jüngeren Geschichte des Semperoper Balletts lassen sich Verbindungslinien zum Ballettabend Vice Versa ziehen. So spielen Imre und Marne van Opstal in der Choreografie von November auf die Werke einiger berühmter Schöpfer an, deren Ballette bereits in den vergangenen Jahrzehnten von der Dresdner Kompanie getanzt wurden, wie Hans van Manen, Jiří Kylián und Ohad Naharin. Sie und Cherkaoui schufen zwei neuartige Werke, die nicht zuletzt durch die besonders enge Symbiose zwischen der Choreografie und den eindrucksvollen Bühnenbildern der international bekannten bildenden Künstler Antony Gormley und Boris Acket eine originelle visuelle Identität entwickeln. Ackets halbtransparenten Schleier, der in November in verschiedene geheimnisvolle Lichtstimmungen getaucht über die Bühne weht, könnte man im Rahmen des Jubiläums als augenzwinkernde Referenz an die zart wallenden Tüllröcke der romantischen Ballerinen verstehen, die zum Anfang der Geschichte des Semperoper Balletts die Bühnen der Tanzwelt zu erobern begannen.
von Julia Bührle, Ballettdramaturgin
Vice Versa
28. Juni 2025 (Premiere)
1., 4., 6., 10. Juli 2025 &
6., 8., 13., 17., 19. März 2026