The Snow Queen: packend, berührend und befreiend zugleich
Hans Abrahamsen im Porträt

Hans Abrahamsen © Per Morten Abrahamsen
Der dänische Komponist Hans Abrahamsen gehört zweifelsfrei zu den führenden Komponisten weltweit. Lange widmete er sich ausschließlich orchestralen und kammermusikalischen Werken und machte einen Bogen um die menschliche Stimme. Doch 2019 gelang ihm mit seiner ersten und bisher einzigen Oper The Snow Queen – uraufgeführt als Snedronningen (auf Dänisch) am 13. Oktober 2019 an der Königlichen Oper in Kopenhagen und als englischsprachige Uraufführung The Snow Queen am 21. Dezember 2019 an der Bayerischen Staatsoper – ein beachtlicher
Erfolg. Das Libretto dazu schrieb er selbst zusammen mit Henrik Engelbrecht; die englische Fassung stammt von Amanda Holden. Sein chara teristischer Klang, das Flirren – ja, quasi die Umsetzung von Kälte und Schnee in Musik – ist jedoch nicht nur in diesem Werk zu finden, sondern in etlichen Vorstudien. Wie kam es zur Vertonung von Hans Christian Andersens Märchen Die Schneekönigin?
Hans Abrahamsen wird am 23. Dezember 1952 im östlichen Teil von Dänemark in Lyngby geboren. Die Musik spielt von Anfang an in seinem Leben eine wichtige Rolle und so kommt es, dass er von 1969 bis 1971 Waldhorn am Königlich Dänischen Musikkonservatorium studiert. Gleichzeitig besucht er auch den Kompositionsunterricht bei Per Nørgård und Pelle Gudmundsen- Holmgreen; noch wichtiger für seinen
Werdegang ist jedoch nach seiner Ausbildung der private Kompositionsunterricht bei György Ligeti. Abrahamsen bleibt dem Konservatorium bis heute treu, nun jedoch als Lehrender; so unterrichtet er an verschiedenen dänischen Musikhochschulen und ist seit 2018 Honorarprofessor am Königlich Dänischen Musikkonservatorium. 2019 bekommt er zudem die „Oliver Knussen Chair of Composition“-Professur an der renommierten Royal Academy of Music in London.
Schon seine älteste gedruckte Komposition, October für Horn und Klavier (linke Hand) aus dem Jahr 1969, als er noch Horn studierte, weist auf zwei Sachen hin. Zum einen wurde Hans Abrahamsen mit einer rechten Hand geboren, die nicht voll funktionsfähig ist. Er schrieb etliche Werke für die linke Hand und war auch begeistert von Maurice Ravels Kompositionen für Paul Wittgenstein, der als Folge einer Kriegsverletzung seinen rechten Arm verlor und für den einige Werke (für die linke Hand) geschrieben wurden. Übrigens kann Abrahamsen auch Waldhorn spielen, da es das einzige Instrument ist, das nur mit der linken Hand gespielt werden kann. Zum anderen fällt in October auf, dass der Komposition eine in sich kreisende Bewegung zugrunde liegt. Das Zyklische wird wichtig werden in seinem Schaffen, insbesondere auch in Verbindung mit den Jahreszeiten und der Natur.
Die musikalische Sprache des Schnees
Eine zentrale Rolle in seinem Werk spielt die Kälte. Bereits sein Kammerensemble-Stück Winternacht (1976–78) verweist auf die klangliche Umsetzung von Schnee und Frost. „Ursprünglich hatte ich vorgehabt, aus Georg Trakls Gedicht Winternacht ein Stück für Sopran und Ensemble zu machen. Der erste Satz lautet: ‚Es ist Schnee gefallen‘, und dann geht es vom späten Abend durch die Nacht bis in den frühen Morgen. Die Welt friert immer mehr ein, man erreicht verschiedene Schichten der menschlichen Seele, und wenn die Sonne aufgeht, beginnt alles zu schmelzen. Im Grunde handelt es sich um genau dieselbe Entwicklung wie in The Snow Queen. Ich habe dieses Stück also vorgesehen für Sopran und Instrumente und zunächst den Instrumentalpart entworfen, sozusagen wie ein Maler den Hintergrund gemalt. Dann wollte ich
den Text mit der Gesangsstimme hinzufügen, wie ein Maler in die Hintergrundlandschaft seine Figuren einfügt. Aber ich konnte für diese Figur, also den Sopran, nicht die Musik finden, und so wurde meine Winternacht in gewissem Sinne zu einem ‚Lied ohne Worte‘.“ – schrieb Hans Abrahamsen im Programmheft der Bayerischen Staatsoper anlässlich der Premiere von The Snow Queen.
Ganz wichtig ist auch der einstündige Kammerensemble-Zyklus Schnee, den er nach einigen Jahren im Sommer 2008 abgeschlossen hat. Der erste Schnee, der fällt, ist ganz magisch. Und wenn die Landschaft ganz und gar weiß ist, dann ist das ein bisschen wie Tod, als würde sie schlafen, die Zeit steht still. In großer Reinheit und Schönheit. Und dann gibt es auch den Schneesturm, sehr wild und gefährlich. Und wenn es friert, wird der Schnee zu Eis und friert uns zu Tode. Der Schnee ist eine Bewegung in der Natur, die völlig still ist. Der Schnee repräsentiert die Zeit des Schlafs zwischen Herbst und Frühling. Im Frühling werden die Dinge neu geschaffen und wiedergeboren. Wie im Märchen, in dem die Personen als Kinder neu wiedergeboren werden.“ Diese Sätze von Hans Abrahamsen enthalten schon zahlreiche Gedanken, die wir dann in The Snow Queen wiederfinden.
Ein einschneidendes Erlebnis war das dreiteilige Monodrama für Sopran und Orchester Let me tell you, das die 431 Wörter der Ophelia aus Shakespeares Hamlet als Ausgangspunkt hat. Der höchst virtuose und ekstatische Part der Solistin wird begleitet von einem metallisch glitzernden und herbstlich rauschenden Orchester – eine ruhige, stille und geheimnisvolle Atmosphäre. Das Werk endet mit: „Schnee fällt. Also: Ich gehe weiter im Schnee …“ – man könnte meinen, dass Hans Abrahamsen diese Worte gesagt hätte. Der Auftrag zu dieser Komposition kam von den Berliner Philharmonikern und dort erfolgte auch die Uraufführung 2013. Das Echo war gigantisch, denn Let me tell you wurde seither knapp 40-mal in mehr als ein Dutzend verschiedenen Ländern gespielt. Die britische Tageszeitung The Guardian honorierte es mit „das beste Werk klassischer Musik, das im 21. Jahrhundert bis dato entstanden ist“.
Der Schnee ist
eine Bewegung in der Natur,
die völlig still ist.
Hans Abrahamsen
Während diesen Kompositionen und vielen weiteren Solo-Konzerten bearbeitete und orchestrierte Abrahamsen auch Werke von Komponisten wie Carl Nielsen, Johann Sebastian Bach, Robert Schumann, Claude Debussy, Maurice Ravel, Erik Satie sowie seiner beiden Mentoren Per Nørgård und György Ligeti. Dies hinterließ natürlich auch Spuren in seinem Schaffen und lässt durchblicken, dass hie und da „der dänische Schnee schmilzt und wir uns in den Höhen der deutschen Spätromantik befinden“, wie es der Musikwissenschaftler Volker Tarnow treffend fo muliert. Und trotzdem schafft Hans Abrahamsen seine eigene musikalische Sprache, die oft mit der sogenannten „Neuen Einfachheit“ in Verbindung gebracht wird, und weit mehr ist. Eine Musik mit inneren Spannungen, eine Musik, die in xfachen Schichten gegliedert ist, eine Musik, die packend und berührend zugleich die Zuhörerschaft mitnimmt.
The Snow Queen – eine Oper voller Tiefe
Die Geschichte in The Snow Queen zeigt zwei Kinder, die erwachsen werden. Eine Coming-of-Age-Erzählung, wenn man so will, voller erotischer Implikationen und verwirrender Rollenzuschreibungen. Merkwürdige und märchenhafte Figuren, Wesen und Tiere begleiten die beiden auf ihrem Abenteuer und es wird klar, dass hier eine einfache Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht funktioniert. „Es sind sehr viele Schichten in dem Märchen“, sagt Hans Abrahamsen, „man kann den Text auf verschiedene Arten lesen. Er enthält viele Geheimnisse, und man kann ihn auf viele Weisen deuten.“ Malte Krasting, der Dramaturg der Produktion in München, schrieb dazu: „Das Leben des Menschen besteht aus Beziehungen. Auch davon handelt The Snow Queen. Der Wunsch nach einer Beziehung verbindet fast alle Gestalten, denen Gerda begegnet: Die Alte Frau sehnt sich nach einem Kind, die Krähen wollen heiraten, die Prinzessin hat nach langer Suche ihren Prinzen gefunden, das Räubermädchen will eine Gefährtin.“ Erotisches Begehren wird nicht nur unterschwellig ausgedrückt: Gerda darf im Bett des Prinzen schlafen und wird kurze Zeit Teil einer Dreierbeziehung; das Räubermädchen zwingt sie in einer Mischung aus Gewaltandrohung und Zuneigungsbeweis, nachts neben ihr zu liegen; und das Rentier küsst Gerda zum Abschied auf den Mund, wobei ihm Tränen übers Gesicht laufen.
The Snow Queen ist eine großartige und vielschichtige Oper, die das zugrunde liegende Märchen in ganz neuem Licht erscheinen lässt. Abrahamsen schafft eine hochkomplexe und bis ins kleinste Detail strukturierte Partitur, die jedoch nicht mathematisch klingt, sondern emotional, einfühlsam und befreiend. Am Ende steht weder die einzelne Stimme im Zentrum noch der mächtige Orchesterapparat, sondern die einzigartige Verbindung der Menschen zueinander. Am Ende siegt die tiefe Freundschaft zwischen Kay und Gerda: ein humanistischer Appell, der seinesgleichen sucht.