Im Herbst des Lebens
Ein Beitrag von Elke Heidenreich

Elke Heidenreich © Stephan Pick
Sir John Falstaff ist im Grunde genau das, was gerade unter einem „alten weißen Mann“ verstanden und geächtet wird. Einer, der sich aufspielt, Privilegien vermutet, wo längst keine mehr sind und der nichts begriffen hat: von der Welt nicht, den Frauen nicht, schon gar nicht von sich selbst. Die alten Machtstrukturen, die alten Verführungsmechanismen, hier sind sie, festgezurrt und ohne Gespür dafür, dass die Zeit der alten weißen Männer, der Falstaffs, vorbei ist.
Aber so kleinlich wollen wir nicht sein. Schauen wir ein wenig genauer hin.
Dieser Falstaff ist in der Neuinszenierung in Dresden ein Bandleader, ein in die Jahre gekommener Rocker, und das kennen wir doch von Mick Jagger und Keith Richards, von Rod Stewart, Sting und Bryan Adams, und wir möchten sie durchaus nicht missen. Keith Richards, vor Kurzem 80 geworden, plädiert unbedingt für ein Glas Wein zum Mittag- und Abendessen, aber unser Falstaff ruft zu Beginn des Stückes laut und prollig nach gleich einer neuen Flasche, „Holla! Un’altra bottiglia!“
Bei Shakespeare war Falstaff noch ein fetter Ritter von der traurigen Gestalt, bei Verdi ist er ein dicker Aufschneider, ein peinlicher alter Mann, ein ständig saufender, fressender, abgebrannter Hochstapler, der es sich auf Kosten anderer gut gehen lässt, und der sich immer noch für einen großen Frauenverführer hält, während die Frauen ihm schon hinter seinem Rücken den Vogel zeigen. Er hat noch nicht begriffen, dass seine Zeit vorbei ist, denn er war nicht immer so – er besingt seine Vergangenheit: „Quand’ero paggio ero sottile, ero miraggio, vago, leggiero, gentile!“ („Als ich ein Page war, war ich berückend, ein Luftbild, lieblich und leicht und entzückend!“) Ja, wir alle waren nicht immer so, man darf nur den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem sich das ändert – und es scheint, als hätte Falstaff den verpasst, beziehungsweise nimmt er an, seine Reize seien nahtlos in seinen anderen Zustand übergewechselt. Er schlägt sich auf den dicken Bauch und sagt: „Quest’è il mio regno.“: „Das ist mein Reich, mein mächtiges Reich.“ Und er macht sich lustig über das, was man Ehre nennt, man könnte auch sagen: Würde. „L’onor non è chirurgo. Che è dunque? Una parola.“ („Die Ehre ist kein Arzt, was ist sie also? Nichts als ein Wort.“) Hinter seinem Rücken aber reden die Frauen über ihn, und das nicht freundlich – sie nennen ihn Fettsack, Weinschlauch, Tonne, aufgeblasener Mond, „un monte di lardo“ („ein Speckgebirge“), und dazu kommt: Er wird alt. Alt und Verführer, das geht gar nicht. Dieser Anachronismus macht seine Komik aus, ähnlich vielleicht wie bei Don Quijote, diesem anderen Ritter von der traurigen Gestalt.
Zerlina, die frischgekürte Braut, windet sich bei Don Giovannis Verlockungen noch mit „vorrei e non vorrei“ – irgendwie will sie nicht und will aber doch, Giovanni ist einfach zu cool und zu schön. Bei Falstaff heißt es von Meg und Alice nur noch: „non vorrei“. Zu dick, zu blöd, zu alt.
Aber Achtung: Das Alter muss ja nicht unbedingt eine sexuell neutrale Zone sein. Wir wissen von vielen alten Männern, die noch einmal junge Frauen an sich binden wollen und auch können, und neuerdings gibt es eine stattliche Avantgarde älterer Frauen mit jüngeren Liebhabern – auch das funktioniert, denn junge Männer wissen, dass hier keine Kinder oder Versorgungen mehr von ihnen erwartet werden. Es ist egal, wie alt man ist, man muss nur wissen, wie man alt ist – so herum. Das Zauberwort heißt: Würde. Und das genau geht Falstaff ab, dieses Feingefühl dafür, dass seine Zeit vorbei ist. Er überschätzt sich, und sowas hat immer fatale Folgen. Wie dumm muss denn einer aber auch sein, denselben Liebesbrief an gleich zwei Frauen zu schreiben, die noch dazu befreundet sind? Mit diesem Mann haben wir kein Mitleid, das ist ein abgehalfterter – in diesem Fall – Rocker, eine Figur im fortschreitenden Verfall, eine Witzfigur. Diese Figur gab es so schon in den Komödien der Antike, bei Plautus, in der Commedia dell’Arte – also nichts Neues. Aber geht so einer heute in unseren streng woken Zeiten noch durch? Wohl eher nicht.
Schon der Ochs auf Lerchenau ist bei Strauss und Hofmannsthal daran gescheitert, dass er sich überschätzte und noch in der Arena glaubte, während die Marschallin schon mit 34 wusste: Meine Zeit ist vorbei, Quinquin, das ist mein letzter Liebhaber.
Sind es die Männer, die alten weißen Männer, die sich so gnadenlos verschätzen? Falstaff sagt: „Guardate! Io sono ancora una piacente estate di San Martino.“ („Seht nur, auch im Herbst des Lebens steh’ ich noch in voller Blüte.“) Wenn er sich da mal nicht irrt. Man muss, fürchte ich, im sogenannten Herbst des Lebens dann doch etwas demütiger werden. Und das wird er – aber erst, als es schon fast zu spät ist, als er merkt, wie sehr er sich zum Gespött gemacht hat: „Va, vecchio John, va“, sagt er zornig zu sich selbst, los, alter John, geh, geh weg, hör auf, hau ab. „Ho di peli grigi …“ („Ich hab ja schon graue Haare.“)
Das Alter braucht eine gewisse Würde. Hat man die nicht, wird man leicht zur lächerlichen Figur, und es ist dann letztlich nicht seine Weinfassfigur, die John Falstaff zum Trottel macht, sondern die Figur, die er abgibt, weil er alt ist und das nicht richtig begreift. Man muss vorsichtiger werden. Die Goethe’schen Knabenmorgenblütenträume müssen der Einsicht weichen, dass eben jenseits eines gewissen Alters nicht mehr alles möglich ist.
Aber manchmal beschleicht uns doch auch das Gefühl, dass Falstaff in seiner rotzigen Unbekümmertheit vielleicht lebendiger ist als eine Gesellschaft mit starren Moralvorstellungen? Wer weiß!
Verdi, der wunderbare Verdi, elegant, schmal, sich dem Liebesgetümmel an den Opernhäusern entziehend, Verdi hat das immer gewusst und hat mit 80 Jahren diesen Mann beschrieben, der so gnadenlos scheitert und dennoch trotzig bleibt. Verdi wusste auch, dass er selbst alt war – es gibt großartige Briefe, die er mit Freunden, seinem Verleger und vor allem seinem Librettisten Arrigo Boito darüber gewechselt hat. Als beide den Falstaff planten, nach dem riesigen Erfolg von Otello, da wusste Verdi, was für eine Herausforderung das werden würde, aber er wollte es auch allen noch mal zeigen: Er sah die Arbeit an dieser letzten Oper als „ein Rezept, ein Dutzend Jahre verschwinden zu lassen, dann – was für eine Freude, dem Publikum sagen zu können: DA SIND WIR NOCH! GANZ DA!!“ Und Boito antwortete postwendend, am 9. Juli 1889: „Ich bin entschlossen. Ich denke tatsächlich niemals an Ihr Alter, weder wenn ich mit Ihnen spreche, noch wenn ich Ihnen schreibe, noch wenn ich für Sie arbeite. […] Alter, Kraft, Ihre Mühe, meine Mühe gelten nicht und sind kein Hindernis für eine gute Arbeit.“
Es ist egal, wie alt man ist,
man muss nur wissen,
wie man alt ist – so herum.
Verdi spürt das Alter aber durchaus. „Das Leben ist Schmerz“, schreibt er an die Gräfin Negroni-Prati, ein paar Jahre nach der Falstaff-Premiere, drei Jahre vor seinem Tod. „Wenn man jung ist, wiegt einen die Lebensunerfahrenheit, das Bewegte, mancherlei Zerstreuung, Ausschweifung in Schlummer, der Zauber wirkt, man erträgt das bisschen Gute, bisschen Böse und merkt nichts vom Leben. Jetzt kennen wir es, spüren es und der Schmerz bedrückt und zermartert uns. Was tun? Nichts, nichts. Wir müssen weiterleben, krank, müde, enttäuscht, bis dass ...“
Verdi ist 76, Boito 47 Jahre alt, als sie mit ihrer Arbeit am Falstaff beginnen. Boito war nicht irgendwer – er war ein begnadeter Librettist, selbst erfolgreicher Komponist und er hatte für die italienische Erstaufführung 1888 in Bologna Wagners Tristan und Isolde übersetzt. Außerdem war er mit der berühmtesten Schauspielerin jener Zeit liiert – mit Eleonora Duse. Auf dem Weg zur Duse, die 1889 in Neapel gastierte, besuchte Arrigo Boito den alten Verdi in Genua, und die Idee, eine komische Oper zusammen zu schreiben, nahm Gestalt an. Nachdem er abgereist war, schrieb Verdi an Boito: „Amen: und so sei es! Machen wir also den Falstaff!“
Aber: Es zieht sich – Verdi konnte eben doch nicht mehr eine Oper in nur vier Monaten schreiben, wie damals seine Aida. Und er hatte zuvor nur eine komische Oper
– Un giorno di regno – geschrieben, deren Uraufführung allerdings ein Fiasko war und bereits über 50 Jahre zurück lag. Aber dann lief es wieder, der Musikwissenschaftler Kurt Pahlen findet: „Und so schrieb er nicht nur eine neue Oper, er schrieb eine neue Musik. Eine Musik, wie er sie nie zuvor geschrieben, ja fast ein Leben lang für unerreichbar gehalten hatte.“
Am 9. Februar 1893 wurde Falstaff in der Mailänder Scala mit einem überwältigenden Erfolg uraufgeführt. „Falstaff“, schreibt Hans Kühner in seiner Verdi- Monografie, „begründet einen schon von den Elementen des Impressionismus durchzogenen neuen Stil.“ Strawinsky spottete in seiner Musikalischen Poetik, den Falstaff könne man glatt für das beste Werk Wagners halten.
Verdis Falstaff, der mit einer Fuge endet und die ganze Welt als verrückte Komödie in Shakespeares Sinn beschreibt, beendet das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der
Romantik, das Zeitalter der alten Musik. Im Falstaff ist schon eine neue Musik zu hören. „Tutto è finito. Alles ist zu Ende.“ Und ist alles gut? Ist die Harmonie wieder hergestellt? Keineswegs. Einem Rüpel wurde eine Lektion erteilt, mehr nicht. Das klingt sowohl im Text als auch in der Musik heiter, grotesk, bisweilen absurd, und das Orchester klingt oft sehr viel ernster und tiefer als das, was da gespielt und gesungen wird. Es ist am Ende in der alten Form der Fuge ein zerbrechlicher Frieden, mehr nicht, und letztlich sind wir alle die Gefoppten, „Tutti gabbati“!
Elke Heidenreich ist Journalistin, Talkmasterin, Kabarettistin, Autorin und Opern-Librettistin. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet.Ihre neueste Veröffentlichung trägt den Titel: Altern: Alle wollen alt werden, niemand will es sein. Ist das nicht absurd?