„Wir alle sind verführbar“

Objekt, Spielball, Seherin, Seelenführerin: Wo stehen Frauen heute gesellschaftlich? Ein Gespräch zwischen Mefistofele-Regisseurin Eva-Maria Höckmayr und Schauspielerin Martina Gedeck

Frau Höckmayr, Frau Gedeck, Johann Wolfgang von Goethes Drama Faust, auf dem Arrigo Boitos Oper Mefistofele basiert, endet mit einem bemerkenswerten Statement: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, verkündet der Chorus mysticus zum glorreichen Finale. Was genau verbirgt sich für Sie dahinter?  

Eva-Maria Höckmayr: Ich denke, prinzipiell ging es Goethe, der ja auch ein großer, fast schon alchemistischer Forscher war, darum, dass die beiden Lebenspole, wie ich sie jetzt einmal nennen würde, in irgendeiner Art von Ausgleich stehen müssen: auf der einen Seite das Verkopfte, Lineare, Vorwärtsstrebende, das ja in der Figur des Faust exemplarisch vorgeführt wird und im klassischen Geschlechterdiskurs vor allem mit dem Männlichen verknüpft ist, und auf der anderen Seite das Betrachtende, Empathische, das man traditionellerweise eher mit dem Weiblichen assoziiert und das Faust als Charakter ja tatsächlich fehlt. Insofern bedeutet für mich das „Ewig-Weibliche“ eigentlich das Göttliche.

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Martina Gedeck: Ich habe das immer ganz simpel gelesen: Für mich steht das Weibliche – womit jetzt natürlich keine konkrete Frau gemeint ist, weil das Weibliche genauso im Mann existiert wie umgekehrt das Männliche in der Frau – im allerweitesten Sinn für die Kapazität zu „empfangen“. Also für die Fähigkeit, sich einzulassen oder sogar auszuliefern, als Kehrseite zu diesem aktiven und offensiven, um nicht zu sagen aggressiven Moment der Faust-Figur.

Höckmayr: Ich mag deinen Gedanken, dass in jedem und jeder von uns beide Seiten existieren, und würde direkt daran anschließen, dass wir uns lebenslang in der Spannung zwischen diesen Polen bewegen und eigentlich ständig nach ihrem Ausgleich suchen. Und dieser Ausgleich, das wäre dann vielleicht die Erlösung, die Faust in dem Moment erleben würde, in dem er aufhörte zu streben. Aber das kann er ja nicht. Goethe erhebt diese Eigenschaft in seinem Faust zum Wesenskern des Menschen, die ihn aber für Goethes Gott gerade erlösenswert macht.

So gesehen wird das „Ewig-Weibliche“ im Drama gefeiert und verehrt, während es für das konkrete Weibliche ja eher trüb aussieht: Margarete oder Margherita, wie sie bei Boito heißt, endet nach einer ungewollten Schwangerschaft als Kindsmörderin im Kerker und sieht ihrer Hinrichtung entgegen.

Höckmayr: Das stimmt. Bei Boito wird sie sogar noch stärker zum Objekt und zum Spielball des Geschehens, weil die Handlungsradien und Innenschauen, die sie in Goethes Drama hat, in der Oper praktisch weggeschnitten sind. Da bleibt als Situation, in der wir uns als Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihr identifizieren können, eigentlich wirklich nur die Kerkerszene. Mir hat diese Reduktion tatsächlich sehr zu denken gegeben und letztlich das Bedürfnis geweckt, die Margarete-Figur sichtbarer zu machen.

Was haben Sie konkret vor?

Höckmayr: Ich kann in der Oper natürlich keine Szenen neu hinzukomponieren. Aber wir wollen Margheritas Geschichte zumindest miterzählen. Während sie bei Boito ja eigentlich immer nur kurz in die Faust- und Mefistofele-Erzählung hineingeschnitten wird, soll es bei uns eine stumme Parallelhandlung geben, in der man sieht, was mit Margherita passiert: Wie sie zum Beispiel mutterseelenallein das von Faust gezeugte Kind bekommt und weder ein noch aus weiß, während Faust und Mefistofele längst weitergezogen sind und sich in der Walpurgisnacht vergnügen.

Eine konsequente Idee.

Höckmayr: Es gibt bei uns aber noch eine andere große weibliche Gestalt, die sich durch den gesamten Abend ziehen wird und die für mich tatsächlich viel mit diesem Begriff des Göttlichen zu tun hat. Ich finde es nämlich sehr spannend, dass Boito, der ja mit Sicherheit Katholik, aber für mein Empfinden recht antiklerikal war, seine Oper – anders als Goethe – nach Mephisto benannt hat statt nach Faust und darüber hinaus die Figur Gott im Prolog im Himmel auch gar nicht als Person auftreten lässt, sondern sie sogar ein Stück weit in die Mefistofele-Figur hineinverlagert.

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Mir erscheint das ungeheuer modern. Unsere Gegenwart leidet ja auch an einer transzendentalen Obdachlosigkeit. Insofern verstehe ich Mefistofele als einen uns durchaus ähnlichen Menschen: einen Zyniker, dem diese Leere so bewusst ist, dass er sie permanent vor sich hertragen muss. Martinas Figur bildet dazu einen Gegenpol: Sie ist mit der Fähigkeit ausgestattet, tief in das Innere dieses Mefistofele hineinzuschauen, seinen Mangel und auch seine Bedürftigkeit zu erkennen und letztlich so etwas wie seine Seelenführerin zu sein. 

Frau Gedeck, die Rolle, die Sie an diesem Abend spielen werden, heißt schlicht „eine Frau“, und da sie in Boitos Libretto nicht vorgesehen ist, haben Sie große Gestaltungsfreiheit. Was genau werden Sie als „Seelenführerin“ auf der Bühne tun?

Gedeck: Inhaltlich betrachtet, werde ich die italienische Oper mit deutschen Texten aus Goethes Faust I und II ergänzen. Aber das Interessante an meiner Figur ist dabei, dass sie ganz verschiedene Perspektiven einnehmen kann. Sie ist gleichermaßen in der Lage, Mefistofele zu kommentieren oder Faust zu hinterfragen wie zum Beispiel die Innensicht der Margherita darzustellen. Dieses kaleidoskopartige Prinzip steckt ja tief in der DNA des Faust: Schon Goethe selbst nimmt in seinem Text unterschiedliche Positionen ein. Ich finde das großartig, wie er sich gleich am Anfang, beim Vorspiel auf dem Theater, aufspaltet in die Figur des Direktors, des Dichters und der lustigen Person. Er – als Johann Wolfgang – hatte ja tatsächlich alle drei Positionen inne. Er war Theaterleiter, Schriftsteller und mit Sicherheit auch dieser weise Narr, der sagt: Ihr könnt mich alle mal!

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Höckmayr: Für mich ist Martina aber auch die Seherin, die ihr Gegenüber so klar lesen kann, dass sie wirklich zum Kern seiner Emotionen vordringt. Deshalb kann sie diesen Mefistofele, der aus meiner Sicht im Verlauf des Abends immer deckungsgleicher mit der Faust-Figur wird, entlarven und auf sich selbst zurückstoßen.

Frau Gedeck, Sie sind vor allem als große Film- und Theaterschauspielerin bekannt. Was hat Sie zur Oper geführt?

Gedeck: Ich habe schon vor einigen Jahren angefangen, mit Musikern aufzutreten. Das ist neben dem Film ein ganz wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, in dem ich mich sehr zu Hause fühle, weil er den intellektuellen Raum öffnet hin zum Intuitiven. Die Kombination aus Text und Musik sorgt dafür, dass man weder nur in der Ratio steckenbleiben noch vollkommen im Gefühligen verschwinden kann. Das ist zwar ein sehr anspruchsvolles Unterfangen, aber wenn es gelingt, kann es dem Publikum klassische Texte wirklich noch einmal neu aufschließen und geht direkt ins Herz.

Faust gehört in den meisten Bundesländern inzwischen nicht mehr zur gymnasialen Pflichtlektüre. Und der Aufschrei, der durch die Feuilletons ging, als vor zwei Jahren eine, wie ein Medium schrieb, „letzte Bastion“ fiel und das Bundesland Bayern seine Abwahl des Dramas ab dem Schuljahr 2024/25 verkündete, hielt sich durchaus in Grenzen. Warum sollte sich ein heutiges Opernpublikum für die Geschichte interessieren?

Höckmayr: Die große Sinnsuche des Menschen im Ringen mit allen Elementen, diese Herausforderung ist einfach nie zu Ende und deshalb ein allgemeingültiger Stoff. Nicht umsonst gehört Faust zu den Urmythen unserer Kultur.

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Gedeck: Das sehe ich genauso. Wenn man Fausts ersten Monolog bei Goethe liest, fallen einem doch sofort unzählige Menschen ein, die genau dasselbe von sich denken und sagen: Ich habe alles gesehen, ich habe alles erreicht, was soll jetzt noch kommen? Warum bin ich unglücklich? Was fehlt mir? Die Frage ist ja: Warum macht Faust denn alles, was Mephisto ihm sagt? Das ist doch ein weiser älterer Herr, der könnte ja eigentlich gut für sich allein entscheiden. Aber natürlich ist er verführbar durch jemanden, der ihm verspricht, seinen seelischen und intellektuellen Durst zu stillen, weil er immer noch ein „Mehr“, ein „Größer“ und „Weiter“ in Aussicht stellt. Dieses Gefühl kennen wir alle sehr gut! Wir alle sind verführbar!

Außer dem Teufel existiert nichts und niemand mehr, der ein Sinnversprechen gibt?

Gedeck: Diesen Abfall vom Glauben, den Goethes Faust thematisiert, halte ich tatsächlich für eines der gewichtigsten Themen unserer Zeit. Während die Leute vor 100 oder selbst noch vor 50 Jahren an Gott glaubten, leben wir ja heute in einer durchrationalisierten Welt, in der sie sich entweder der Technik verschrieben haben und von ihrem Handy sagen lassen, was sie tun sollen, oder sich esoterische Schlupflöcher suchen. Nicht umsonst blüht ja zurzeit der Aberglaube wieder. Denn die Fragen hören natürlich nie auf, weil sie existenziell sind: Gibt es das Göttliche – und wenn ja, was könnte es sein? Kann es mich retten? Umgibt es mich, nährt es mich? Und falls nicht – wo bin ich dann aufgehoben?

Ich würde zum Schluss gern noch einmal auf „das Ewig-Weibliche“ zurückkommen.

Höckmayr: Das Schicksal von Margarete ist natürlich – weil wir gerade über Allgemeingültigkeit sprachen – ein Handlungsstrang, den man nicht mehr so ohne weiteres als heutige Geschichte erzählen kann wie die Sinnsuche. Da gibt es zum Glück mittlerweile doch sehr erhebliche Veränderungen zu unserer gegenwärtigen sozialen Situation.

Gedeck: Zumindest im westlichen Teil der Welt.

Im Sprechtheater stehen kanonische Stoffe wie der Faust, in denen Frauenrollen unterrepräsentiert sind oder weibliche Figuren als zu passiv beziehungsweise überhaupt zu stereotyp empfunden werden, zurzeit stark in der Kritik. Sie werden dekonstruiert und aus einer heutigen Perspektive „überschrieben“. Gibt es solche Bestrebungen auch in der Oper?

Höckmayr: Ich verstehe diesen Impuls sehr gut. Und auch ich möchte, dass wir uns in der Oper auf unsere Gegenwart beziehen. Auch in der Oper können wir „überschreiben“, aber in den Mitteln anders als im Schauspiel und immer im Dialog mit der Musik und der anderen Epoche des Werks. Ich mag, dass die Reibung, die in diesem Dialog entsteht – die historische Differenz – anders als im Schauspiel nicht einfach weggeschnitten werden kann. Wenn wir einen Blick zurückwerfen und die Reibungsflächen mit der Historie auf der Bühne sichtbar machen, können wir viel über uns heute verstehen – im Falle des historischen Gretchens zum Beispiel, woher wir Frauen gesellschaftlich kommen und wo wir vielleicht heute als Menschen stehen.


 Die Theaterkritikerin Christine Wahl, 1971 in Dresden geboren, arbeitet als freie Autorin u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den Spiegel sowie als Redakteurin für nachtkritik.de. Sie ist außerdem Teil der Auswahlgremien für die Mülheimer Theatertage und das Festival für junge Regie Radikal jung.