Innovativ und revolutionär
Gedanken zur Musik von Arrigo Boito
von Andrea Battistoni
Es handelt sich um eine Musik, die auch heute noch begeisterte Bewunderer – und ebenso hartnäckige Kritiker – hat. Erstere schätzen vorbehaltlos die wunderbare melodische Inspiration, die Grandiosität der Dimensionen, die an eine intensive Freskomalerei erinnert, die theatralischen Momente, die in ihrer Erhabenheit und sogar Exzentrik sehr wirkungsvoll sind. Die Kritiker hingegen werden nicht müde, das Fehlen eines eigenen Stils zugunsten der Nachahmung von weitaus höher geschätzten Komponisten zu betonen, wobei die „boitosche Polystilistik“ als völlige Stilfreiheit gerügt wird. Eine gewisse Naivität in der Kompositionsweise wird gnadenlos hervorgehoben, ebenso wie die Exzentrik der Stimmführung in den Chören, die unvorbereiteten Modulationen, die manchmal unbeholfen und beinahe naiv wagnerianisch wirken, die orchestralen Gesten, die mitunter überzogen seien.
Ich aber gehöre seit langem zu den Verteidigern Boitos, denn ich hatte die Gelegenheit, den Mefistofele bereits in zwei Produktionen und nun zum dritten Mal in Dresden zu dirigieren.
Mefistofele ist zu einer Reise geworden, der ich immer wieder freudig entgegenfiebre; trotz all seiner „Naiveté“ halte ich es für einen Meilenstein in der Geschichte der italienischen Oper, entstanden in einer Zeit – Ende des 19. Jahrhunderts –, in der eine jüngere Generation von Opernkomponisten mit Eifer nach neuen Wegen suchte, um eine Kunstform zu öffnen, die in den gefestigten Formen des berühmten Verdi gefangen schien.
In Mefistofele ist eben die reifste und vollkommenste Frucht dieser Periode zu sehen: Hier verbinden sich die Einflüsse Wagners und der Romantiker (vor allem Berlioz, Liszt und Gounod) in gelungener Einheit mit der Tradition des italienischen Melodrammas. Dieses schillernde und vielfältige musikalische Material beherrscht Boito mit großer Fantasie und schafft eine eklektische und darin ganz eigene Partitur von erstaunlicher Originalität und melodischem Reiz. Zugleich verfolgt er einen ambitionierten Plan: Der Musikwelt endlich eine Version der beiden Teile von Goethes Faust zu geben, ein Kunststück, das nie zuvor jemand versucht hatte. Mit Exzentrik und Mut versuchte Boito, die Größe von Goethes Dichtung mit dem Aufbau der typischen italienischen Oper zu verbinden, und zwar auf der Grundlage seiner eigenen literarischen Fähigkeiten – und kleidete sie dann in Noten, die für die damalige Zeit innovativ und revolutionär waren.
Es sollte einige Zeit vergehen, bis beispielsweise mit Gustav Mahler ein anderer Komponist auch den Versuch unternahm, eine Vision des Göttlichen musikalisch zu beschreiben (und nicht von ungefähr erinnert das Finale von Mahlers Zweiter Symphonie mit der eindrucksvollen Klangkulisse aus Blechbläsern und Schlaginstrumenten und der grandiosen Apotheose am Ende sehr stark an den Prolog des Mefistofele).
Arrigo Boito erweist sich als Meister der musikalischen Erzählkunst. In seiner Komposition wird jedes Instrument mit seiner spezifischen Klangfarbe eingesetzt, die für die jeweilige dramatischen Situationen am besten geeignet ist: Sei es die sanfte Wärme der Klarinette, das Pathetische des Englischhorns, die engelsgleichen Harfen, das bedrohliche Timbre der Bassklarinette oder das diabolische Pizzicato der Streicher. Auf ebenso fantasievolle Weise geht er mit den Stimmen der Sänger*innen um, von den mal flüsternden, mal donnernden Chorklängen über den wispernden Kinderchor bis hin zur titelgebenden, fulminanten Basspartie, die jedem Interpreten zugleich große Befriedigung und Schwierigkeiten bereitet. Die Rolle des Mefistofele wird hier zum Entertainer, zum Star, zum komisch-kecken Meister des Spiels, der das Publikum mal amüsiert, mal erschreckt.
Und Boito geht in seiner rebellischen und bissigen Art sogar so weit, den teuflischen Geist der Verweigerung, des ewigen Verneinens, mit dem schrillen Klang des Pfeifens zu charakterisieren! Wenn man bedenkt, dass Pfeifen im Theater dem Aberglauben nach Unglück bringt, braucht man sich über den Misserfolg der Uraufführung von Mefistofele an der Mailänder Scala 1868 nicht zu wundern.
Doch die Zeit gibt Boito recht: Mefistofele wird in der stark überarbeiteten, zweiten Fassung immer wieder auf den Bühnen dieser Welt gezeigt, vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen und geht durch eine Reihe von Aufnahmen mit berühmten Interpreten wie z. B. Fjodor Schaljapin in die Geschichte ein.
Ich werde immer bereit sein werde, mit Mefistofele zu lachen, dem „guten Teufel“, der, wie jeder Hüter der Schwelle, darauf wartet, uns auf eine spannende und besondere Reise mitzunehmen, die zugleich ernst und ironisch ist.
Mefistofele
Premiere am 28. September 2024
Vorstellungen: 1., 6., 10., 13., 18. & 24. Oktober 2024