Wie ein Parfüm
Maxime Pascal über die Welt jenseits des Klangs
Erzählen Sie uns ein wenig von von Ihrem musikalischen Werdegang …
Als ich 18 Jahre alt war, waren all meine Entscheidungen auf den Beruf des Dirigenten ausgerichtet. Ich habe viele Fächer studiert: Violine, Orchestrierung, Komposition, Alte Musik, Neue Musik, musikalische Texte, Analyse ... und natürlich steuerte ich auf das Dirigieren zu. Ich fühlte mich dazu hingezogen, es war wie eine Berufung. Je mehr Jahre vergingen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass dies meine Rolle ist.
Junge Musiker*innen wachsen mit den Aufnahmen der großen Orchester der Welt auf, darunter natürlich auch denen der Staatskapelle Dresden. Ich habe dieses wunderbare Orchester schon sehr früh in den Aufnahmen gehört, die wir zu Hause hatten. Es ist ein Orchester, das mich inspiriert und als Musiker weitergebracht hat. Die Sächsische Staatskapelle ist ein legendäres Orchester an einem legendären Ort, und deshalb ist es für mich eine Ehre und eine unglaubliche Freude, sie dirigieren zu dürfen.
Innocence ist seit der Uraufführung in Aix-en- Provence 2021 ein großer Erfolg und wurde u. a. in London, Helsinki, Amsterdam und San Francisco aufgeführt. Was ist aus musikalischer Sicht so besonders an diesem Werk?
Viele Elemente in Kaija Saariahos Werk sind bemerkenswert. Ein wichtiger Punkt ist die Mehrsprachigkeit. Das in der Oper verarbeitete Massaker findet in einer internationalen Schule statt und die Kinder kommen aus der ganzen Welt. Jede Figur hat ihre eigene Sprache und eine bestimmte Art von Vokalität. Dies verleiht den Charakteren ein wirkliches Gefühl der Identifikation. Und es schafft eine sehr starke Inklusivität: Wir haben Opernsänger*innen, aber auch Schauspieler* innen und eine Folksängerin auf der Bühne. Der Klang des Orchesters ist sehr reich, wunderschön und hinterlässt einen sehr starken Eindruck, fast wie ein Parfüm – besonders, weil Klavier, Harfe, Celesta und Schlagzeug beteiligt sind. Es ist ein brillanter Orchesterklang mit vielen magischen Farben. Zudem gibt es eine Vielzahl von klanglichen Atmosphären, von denen eine in die nächste übergeht. Die Oper heißt Innocence, und sie macht ihrem Namen alle Ehre, denn das Konzept der (Un)Schuld, ein mehrdimensionales Gefühl, steht im Mittelpunkt dieses Werks.
Warum ist Innocence eine zeitgenössische Oper, die das Dresdner Publikum nicht verpassen sollte?
Innocence ist eines dieser wunderbaren Werke, die die Zuschauer*innen sehr direkt und unmittelbar berühren. Ich gehöre zu einer Generation, die mit den Themen dieser Oper aufgewachsen ist. Weil Musik über die Sprache hinausgeht, kann sie mit dem Unbewussten und dem Unterbewusstsein in Verbindung treten, sie ermöglicht den Zugang zu dem Bereich, in dem sich traumatisierte Menschen wiederfinden können.
„Der Klang des Orchesters ist sehr reich, wunderschön und hinterlässt einen sehr starken Eindruck.“
Die Oper beschäftigt sich auch mit dem Begriff der Vorhersehbarkeit: Wie man das Böse vorhersehen kann, warum man es nicht vorhersehen konnte, wie man es hätte vorhersehen können. All dies steht im Mittelpunkt unserer aktuellen Überlegungen zur Kriminalität und zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Bei erwachsenen Straftäter*innen gibt es Lebenswege, die studiert und analysiert werden. Bei Kindern und Jugendlichen ist es viel komplizierter und erschreckend unberechenbar. Innocence leistet in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag zur Debatte.
In der Idee, die Lebenden und die Toten zum Singen zu bringen, steckt auch der Gedanke, ein Sühne-Ritual zu schaffen – was ich für einen befreienden Gedanken halte.
Maxime Pascal setzt sich leidenschaftlich für die französische Musik, die Musik des 20. Jahrhunderts und die Neue Musik ein. Er ist als Operndirigent u. a. an der Mailänder Scala, der Opéra national de Paris, der Berliner Staatsoper und den Salzburger Festspielen aufgetreten. Maxime Pascal ist Gründungsmitglied des Orchesters Le Balcon, mit dem er sich einem breiten Repertoire und vielfältigen Projekten widmet, die regelmäßig auch fortschrittliche Klang- und Lichttechnologien einbeziehen. Zu den bisherigen gemeinsamen Projekten zählen u. a. Stockhausens Donnerstag aus Licht 2018 an der Opéra Comique de Paris und 2019 in der Royal Festival Hall in London. Diese Produktion führte zu einer auf sieben Jahre angelegten Zusammenarbeit mit der Philharmonie de Paris zur Aufführung von Stockhausens gesamtem Licht-Zyklus.