Interview

Bewegung als Obsession

Interview mit dem französischen Bühnen- und Kostümbildner Jérôme Kaplan über seine Arbeit an »Romeo und Julia« von David Dawson

Können Sie sich erinnern, wann Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben mit Tanz in Berührung gekommen sind?

Da fällt mir meine ältere Schwester ein, die als kleines Mädchen getanzt hat. Ende der 1970er Jahre, als Teenager, tanzte sie dann in der Kleinstadt, wo wir lebten, solistisch und in einem – für die damalige Zeit – sehr modernen Stil. Das ist meine früheste Tanz-Erinnerung. Außerdem habe ich einen russischen Großvater, und in diesem Land hat Tanz ja auch schon immer eine bedeutende Rolle gespielt.

Was war Ihre erste Ballettproduktion in einem professionellen Kontext?

Das war 1991 in Frankreich, und wir brachten ein Ballett über zwei Familien auf die Bühne – die Idee entstand, weil wir mit einer anderen Company zusammenarbeiteten. Am Beginn meiner Karriere war ich vor allem an Opern- und Schauspielproduktionen beteiligt, aber irgendwie fand ich Ballett immer viel spannender. Außerdem wird Bewegung für mich zu einer regelrechten Obsession, wenn ich zeichne und kreiere. Gerade weil ich vorzugsweise Menschen in Bewegung abbilde, bin ich dem Tanz auch so verbunden. Man kann Kostüme auch statisch präsentieren und einfach nur ausstellen, aber dann wirken sie für mich irgendwie leblos. Insbesondere bei Kostümen für Tanz halte ich es für wichtig, dass sich sowohl der Träger beziehungsweise die Trägerin als auch das Kleidungsstück bewegen, sonst wird es nicht richtig wertgeschätzt.

Welche Beziehung haben Sie zu »Romeo und Julia«?

Ich schätze mich sehr glücklich, wieder einmal dieses Stück als Ausstatter auf die Bühne bringen zu dürfen – für mich ist es nun das fünfte Mal. Meine erste »Romeo und Julia«-Produktion war 1996 in Monte Carlo. Das war damals ein großer Erfolg – und sie ist es noch immer. Und da die Produktion viel um die Welt gereist ist, haben sich auch für mich dadurch neue Chancen ergeben, zum Beispiel in China und Südkorea. Doch das Fundament des Erfolgs liegt in der tragischen Liebesgeschichte und der Kombination aus Shakespeare und Prokofjews Musik.

Eine wesentliche Inszenierungsentscheidung, mit der wohl jedes Produktionsteam von »Romeo und Julia« konfrontiert ist, ist die Frage: klassisch oder modern…

Das Gute ist, dass jede neue Konstellation mit einem Produktionsteam auch ein Neu- und Umdenken erfordert, so dass man immer wieder bei Null anfängt – egal, wie oft man das Stück vielleicht schon gemacht hat. Ich habe auch schon viele klassische Ballette in recht traditioneller Ausstattung auf die Bühne gebracht. Meine Antwort auf die Frage nach der zeitlichen Verortung ist: zeitlos. Denn beim Kreieren versuche ich stets, zu vereinfachen. Besonders bei einem Handlungsballett wie »Romeo und Julia« kann die Ausstattung schnell ›zu viel‹ werden. Da der Stoff seit Shakespeare nichts an Aktualität verloren hat, halte ich es für gut, in meiner Arbeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu vereinen. Mit David Dawson stimmte ich deshalb schnell darin überein, eine zeitlose Produktion zu entwickeln. Ich denke, das ist auch insofern wichtig, als dass Theaterproduktionen ja im Idealfall auch mehrere Jahre, aber auch verschiedene Spielorte überdauern können sollten. Gerade weil Tanz eine universelle Sprache ist, die überall auf der Welt auch ohne Worte verstanden wird, sollte die Ausstattung diese universelle Lesbarkeit unterstreichen.

Hat die Musik von Prokofjew Ihre kreative Arbeit in irgendeiner Weise beeinflusst?

Absolut, sehr sogar. Ich staune immer wieder über die ›Grandezza‹, die in seiner Musik liegt. Man strebt selbst danach, etwas Schönes, Langlebiges, Großes zu erschaffen, und dann gibt es andererseits eine Art von Traurigkeit. Aufgrund dieser Identifikation mit den Stimmungen, die Prokofjew erzeugt, habe ich viel von seiner Musik online angehört, als ich für die unterschiedlichen Rollen Kostüme entworfen habe.

Ballett ist eine sehr körperliche und zwischenmenschliche Kunstform. Worin besteht für Sie als Kostümbildner die besondere Herausforderung, Kleidungsstücke für Tänzer und Tänzerinnen zu entwerfen?

Ich finde, dass ein Kostüm irgendwie zur Schöpfung der Bewegungen beitragen sollte. Außerdem sollte es Manches sichtbar machen, auch wenn der Körper an sich nicht direkt sichtbar, sondern vom Kostüm bedeckt ist. Man muss zum Beispiel das Bein unter dem Stoff ›spüren‹ können. Außerdem finde ich es – gerade im klassischen Tanz – wichtig, dass man die Füße sehen kann. Doch das kommt auch stets auf die Choreografie und das ästhetische Grundkonzept der Produktion an. Das Kostümbild hat schließlich auch dramaturgisch sinnstiftend zu fungieren.

Welche Farben und Stoffe haben Sie für Ihre Kostüme unserer Produktion gewählt?

Wenn ich über ein Kostüm nachdenke – vor allem eines in Bewegung –, dann ist die Wahl des richtigen Stoffes enorm wichtig. Dabei gilt es natürlich auch stets den szenischen Kontext zu berücksichtigen, und die Frage nach der Art und Stärke der Beleuchtung. Meiner Meinung nach spielen Farben, vor allem bei der Erzählung von Handlungsballetten, eine große Rolle, denn das Publikum sollte auch aus der Entfernung dem Bühnengeschehen folgen und die Aktionen der einzelnen Charaktere oder Personengruppen nachvollziehen können. 

Lady Capulet beispielsweise bekam ein langes, elegantes Gewand in Feuerrot, um als Hausherrin aus der Masse der Capulets hervorzustechen, die in gedeckteren Purpurtönen gehalten sind. Tybalt, der ›Bad Guy‹ trägt ein lässiges, düsteres Schwarz mit einer Biker-Jacke. Paris hat eine khaki-farbene Jacke an, die im Schnitt derjenigen von Lord Capulet ähnelt. Dadurch gibt es eine assoziative Verbindung zwischen dem Familienoberhaupt und seinem Schwiegersohn in spe. Das Volk dagegen trägt unterschiedliche Gelb-, Sand-, Grau- und Erdtöne – das war ein ziemlicher Aufwand für die Färberei!

Was Julia betrifft, hatte David Dawson vorgeschlagen, das gleiche Kostüm in unterschiedlichen Natur-Nuancen zu kreieren, um ihrem Bühnencharakter eine klare Kontur zu verleihen. Sie trägt vier verschiedene Kostüme aus leichter, französischer Chiffonseide; dieser Stoff unterstreicht Julias jugendliches Wesen, voller Leichtigkeit, aber symbolisiert auch die Zartheit und Fragilität eines Schmetterlings. Angelica, die Amme, trägt dagegen raue Seide, aus der auch die Jacken von Romeo, Mercutio und Benvolio gemacht sind. Sie stehen eher für geerdete Charaktere. Die anderen Capulet-Ladies tragen Gewänder aus Polyester; dagegen sind die Gewänder der Damen aus dem Volk eher schlicht gehalten. Ansonsten tragen alle Herren enganliegende Hosen, die sich in Form und Textur an figurbetonten Jeans orientieren. 

Was hat Sie architektonisch zum Bühnenbild von »Romeo und Julia« inspiriert?

Das Schöne an meinem Beruf ist das viele Reisen und das Kennenlernen vieler unterschiedlicher Kulturen und Menschen. Diese vielfältigen Eindrücke inspirieren mich und ich versuche, sie in meinem Bühnenbild widerzuspiegeln. Im Fall von »Romeo und Julia« habe ich mich dazu entschieden, die Oberfläche der Versatzstücke in grauer und schwarzer Stein-Optik darzustellen. Diese Idee geht auf meinen ersten Besuch in Dresden – das Florenz des Nordens – zurück. Führt man sich beispielsweise den Wiederaufbau der Frauenkirche vor Augen, dann ist man direkt mit diesem Hell-Dunkel-Kontrast der Steine konfrontiert, wobei der Verdunkelungsprozess des Sandsteins den Verlauf der Zeit reflektiert. Ein Hauch von Vergangenheit bzw. Renaissance wird vielleicht auch durch die Bögen, die ich in mein Bühnenbild integriert habe, vermittelt. Da der Handlungsverlauf ja durch viele Orte gekennzeichnet ist, die zwischen Innenräumen und Straßenszenen wechseln, wollte ich eine Art ›Lego-System‹ entwickeln – wie auf einem Gemälde von Piet Mondrian –, um zügige Szenenwechsel zu ermöglichen. Die Zypressen und die Skyline erinnern vielleicht auch ein wenig an Italien, aber prinzipiell soll die Ausstattung unseren Grundgedanken der Zeit- und Ortslosigkeit ausstrahlen, denn Romeos und Julias finden wir ja überall auf der Welt.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und diese interessanten Einblicke!

Die Fragen stellte Regina Genée