Vorgestellt

Vorgestellt: »Die kahle Sängerin«

Szenische Mitschnitte aus ungewöhnlicher Perspektive sowie ein Interview mit dem Musikalischen Leiter Thomas Leo Cadenbach gewähren Einblick in die kompositorischen Aspekte der Kammeroper von Luciano Chailly.

Ionesco und Chailly

Ganz einfache Gedanken über das Theater

von Eugène Ionesco

Wenn mich die Schauspieler störten, weil ihr Tun mir unnatürlich erschien, so kam das wohl daher, weil auch sie zu natürlich sein wollten oder auch wirklich waren. Wenn sie dieses Streben nach Natürlichkeit aufgeben könnten, würden sie die Natur wahrscheinlich auf andere Weise wieder erreichen. Sie dürfen keine Angst haben, nicht natürlich zu sein. 

In meinem ersten Stück »Die kahle Sängerin«, das zunächst nur eine Parodie auf das Theater sein wollte und damit natürlich auch eine Parodie auf gewisse menschliche Haltungen – in diesem Stück wühlte ich mich förmlich ins Banale ein, ich ging bis zum Bodensatz der verschliffensten Klischees und stieß bis zu den äußersten Grenzen der Alltagssprache vor, um hier an der Grenze des Umschlagens ins Gegenteil eine Ausdrucksweise für das Ungewöhnliche zu gewinnen, in das für mich das Dasein eingelassen ist. Tragisches und Farce, Prosa und Poesie, Realismus und Phantastik, Alltägliches und Ungewöhnliches, das sind vielleicht die dialektischen Prinzipien, die den Boden geben könnten für die Konstruktion eines möglichen Dramas (das Dramatische ist nur in der Spannung der Gegensätze möglich). So könnte vielleicht das Nicht-Natürliche in seiner ursprünglichen Mächtigkeit erscheinen und das Natürlich-Alluzunatürliche seine naturalistischen Aspekte ablegen.

Vertrauliche Einleitung

von Luciano Chailly

»La cantatrice calva« (»Die kahle Sängerin«) ist meine dreizehnte lyrische Oper. Wie bin ich nach den Vertonungen Buzzati, Tschechow, Gracq, Stevenson, Dostojewski, Pirandello eigentlich auf Ionesco gekommen? Und weshalb, ganz besonders, auf »La cantatrice calva«?

Die Idee stammt von meinen drei Kindern, weshalb ich ihnen diese Oper auch gewidmet habe. Cecilia (Harfenistin) sagte zu mir: »Warum schreibst du in einer Zeit langweiliger Opern nicht wieder eine komische Oper?«. Riccardo (Dirigent) sagte: »Sie müsste sein wie ›Procedura penale‹ (›Die Strafprozedur‹), die nach Texten von Buzzati eine gelungene komische Oper geworden ist«. Floriana (Regisseurin) meinte: »Und warum denkst du eigentlich nicht an die ›Cantatrice calva‹ von Eugène Ionesco?«

Und das habe ich dann gemacht. Ich habe Ionescos Einakter zum Opernlibretto umgeschrieben und nicht ein einziges Wort vom Text des großartigen Autors geändert. Ich habe nur Nicht-Notwendiges gestrichen, um das unbedingt Notwendige für den Opernzweck zu behalten. Dann habe ich Ionesco das Textbuch geschickt und er war voll und ganz zufrieden damit. In Bezug auf die Musik bin ich zuerst daran gegangen, für die Figuren rhythmische und melodische Muster zu erfinden, jede Figur sollte eine eigene Art und Weise der Aussprache, des Gesangs und des Ausdrucks bekommen. Darüber hinaus erfand ich eine besondere Orchestrierung, die eine Wechselbeziehung zwischen den Klangfarben der Instrumente und den Charakteren der Personen ermöglichen sollte. Eine ähnliche Gliederung hatte ich bereits bei meinen früheren komischen Opern angewandt: »Una domanda di matrimonio« (»Der Heiratsantrag«) nach Tschechow und »Procedura penale« von Buzzati. Diese Technik hat zum Beispiel auch der Dramatiker Samuel Beckett für sein Schauspiel »Quad« verwendet, um »für jeden Interpreten einen besonderen Ton« zu bestimmen. Das Instrumentalensemble von »La cantatrice calva« setzt sich daher aus einem dreifachen Quintett zusammen. Für das Ehepaar Smith (wankelmütig und schwatzhaft) wählte ich ein Zupfinstrument-Quintett (Mandoline, Mandola, Gitarre, Harfe, Cembalo) aus und für das Ehepaar Martin (verhalten und grotesk) ein Streichquintett. Als drittes habe ich ein Blasinstrument-Quintett vorgesehen, das sich zwischen Mary, der flatterhaften und raffinierten Zofe (Flöte und Oboe d’amore) und dem feierlichen, aber erbärmlichen Feierwehrhauptmann (Hekelphon, Bassetthorn, Kontrafagott) aufteilt. Ich nahm mir die Freiheit und gab nach eigenem Ermessen der »Cantatrice calva« (eine inexistente Figur) eine Stimme: von weit herkommende, fantasierende Koloraturen, die mit ihrem Charme alle bezaubern und zur Verfremdung des Schlusskonzerts führen.

Von der Form her besteht die Oper aus 20 Variationen, die auf ein Anfangsthema (»la pendola« = die Standuhr) folgen. Sie sind in Bezug auf die jeweilige dramatische Situation konzipiert und werden durch musikalische Überleitungen, Rezitative und Schlusssätze miteinander verbunden.
Darüber hinaus gibt es in der Oper zwei musikalische Ebenen: zum einen lautmalerische Halluzinationen in Übereinstimmung mit den paradoxen Situationen des Stückes und dann eine Reihe rhythmischer, asymmetrischer, verzerrter, manchmal wie besessen wirkender Pulsationen, die die Figuren, ihr karikaturistisches und groteskes Bewusstsein interpretieren.