„Turandot-Spiele“ an der Semperoper
Zweifelsfrei nimmt Giacomo Puccinis letzte Oper Turandot eine Sonderrolle in seinem Œuvre ein. Einerseits wegen der Tatsache, dass sie unvollendet vom Komponisten hinterlassen wurde und deswegen unterschiedliche Schluss-Varianten existieren und andererseits, weil in keiner anderen Puccini-Oper dem Chor eine derart tragende Funktion zugestanden wird.
Die „Turandot-Spiele“
Um Publikum ins Theater zu locken, veränderte Friedrich Schiller seine Version der Turandot nach Carlo Gozzi bei jeder Vorstellung und dichtete selbst Lösungsvorschläge für die Rätsel-Szene im 2. Aufzug. Das Publikum muss dabei Spaß gehabt haben, denn es riet mit. So sind insgesamt 15 verschiedene Rätsel entstanden; das Rätselgedicht bei der Vorstellung am 2. Februar 1802 stammte übrigens von Schillers Freund und Dichterkollegen Johann Wolfgang von Goethe.
Die Spielregeln in Giacomo Puccinis letzter Oper Turandot sind im Grunde ganz simpel. Der Mandarin erklärt es zu Beginn: „Volk von Peking! Das ist das Gesetz: Turandot, die Reine, heiratet den Mann von königlichem Blut, der die drei Rätsel löst, die sie ihm stellt. Doch wer die Probe sucht und nicht besteht, soll fallen von der Hand des Henkers!“ Reihenweise werden so Bewerber hingerichtet, und das fürchterliche daran ist, dass sich das Volk daran ergötzt. Diese Hinrichtungen sind zum einen eine Gewaltausübung und zum anderen aber auch eine kathartische Reinigung für das Volk. „Man könnte meinen, wir sind im alten Rom, bei den Gladiatoren; diese Archaik hat mit einer zivilisierten Welt von heute wenig zu tun“, sagt die die französische Film- und Opernregisseurin Marie-Eve Signeyrole, die mit ihrer Turandot-Inszenierung ihr Debüt an der Semperoper gibt. Sie versteht die gesamte Geschichte als eine multimediale Spiel-Show vor einem riesigen, sensationslüsternen Publikum. Das Volk, das sich daran erfreut, wenn Blut spritzt – was ist das für eine Masse?
Das Fragment „Turandot“
Als Puccini infolge eines Kehlkopfkrebses am 29. November 1924 in einem Krankenhaus in Brüssel starb, hinterließ er der Nachwelt die „Turandot“ als Fragment. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass dies nicht daran lag, dass Puccini aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Kraft fand, sondern aus inhaltlicher und musikdramaturgischer Perspektive Mühe hatte, ein schlüssiges Ende zu finden. Musikalisch positionierte Puccini in den ersten beiden Akten den Tenor (Calaf) und den Sopran (Turandot) sehr weit voneinander entfernt, so dass sie keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Turandot will nichts von Calaf wissen, sie sträubt sich mit allem, was sie hat, um nicht eine Beziehung mit ihm, der am Hof nur als „fremder Prinz“ bekannt ist, einzugehen. Puccini haderte also nach dem Tod von Liù im dritten Akt, wie Turandot und Calaf zusammenkommen sollen. Er verfasste zwar Skizzen, doch wie wir aus Briefen eruieren können, überzeugte ihn keine Lösung. Ein Happy End? Dafür benötigt man jedoch einen kleinsten gemeinsamen Nenner in einer Beziehung, wie es ihn beispielsweise zwischen Minnie und Dick Johnson in „La fanciulla del West“ gibt. Doch in Turandot haben sich Calaf und Turandot nichts zu sagen. Sie lernen sich nicht direkt kennen, auf einer zwischenmenschlichen Ebene, sondern über ritualisierte Rätsel und Spiele.
„Turandot“ und ihre unterschiedlichen Finalvarianten
Hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen war es dem Verlagshaus Ricordi, das Puccini vertritt, wichtig, dass die Turandot vervollständigt wurde. Daher wurde Puccinis Zeitgenosse, der italienische Komponist Franco Alfano (1875–1954), beauftragt, anhand von 23 Skizzenblätter, die Puccini noch erstellt hatte, ein Finale für den 3. Akt zu komponieren. Die erste Fassung, der sogenannte „Alfano Schluss I“, lehnte das Teatro alla Scala in Mailand, denn dort sollte die Uraufführung der Turandot gespielt werden, mit der Kritik, dass es zu ausufernd sei, ab. Daher entstand eine kompaktere und kürzere Variante von Alfano, der sogenannte „Alfano Schluss II“. Doch bei der Uraufführung am 25. April 1926 wurde der extra dafür komponierte Schluss nicht gespielt, sondern der italienische Dirigent Arturo Toscanini brach nach Liùs Tod (Ende Fragment) die Vorstellung ab. Erst bei der zweiten Vorstellung wurde dann der „Alfano Schluss II“ gespielt. Dieses Finale wird auch für die Inszenierung von Marie-Eve Signeyrole verwendet.
Noch im selben Jahr fanden internationale Erstaufführungen an wichtigen Landesbühnen wie Buenos Aires, Wien, New York und Brüssel statt, und am 4. Juli 1926 unter der Leitung des damaligen Generalmusikdirektors Fritz Busch die deutsche Erstaufführung an der Staatsoper Dresden.
Es war sogar eine Uraufführung, denn man entschied sich für den „Alfano Schluss I“, doch wie aus dem Notenmaterial ersichtlich wird, mit gekürzten Passagen. Ein Zeitungsrezensent stellte nach der Premiere fest, dass Fritz Busch „vor allem in der Schlussszene nicht unerhebliche Änderungen vornahm, die meiner Meinung nach aber der Wirkung des Ganzen sehr zugute kommen.“
Der Chor als Hauptfigur in „Turandot“
In keiner der 12 Opern, die Puccini komponiert hat, spielt der Chor eine so zentrale Rolle wie in Turandot. Selbstverständlich gibt es großangelegte Chorszenen in anderen Opern von Puccini, beispielsweise das pittoreske „Quartier Latin – Café Momus“-Bild in La bohème oder die beeindruckende Te-Deum-Szene am Ende des 1. Aktes aus Tosca. Und trotzdem ist La bohème eine kammerhafte Tragödie um eine Künstler-WG, bei der die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der gesundheitlich schwer angeschlagenen Mimì im Zentrum steht. In Tosca steht der Chor auch nicht im Hauptfokus, denn der Dreieckskonflikt zwischen der Sängerin Floria Tosca, dem Maler Mario Cavaradossi und dem Polizeichef und zugleich Bösewicht Baron Scarpia bestimmt den Hauptmovens des Geschehens.
In Turandot ist das anders, da ist der Chor fast ständig auf der Bühne und spielt als Protagonist mit. Er antwortet, feuert an, freut sich, wenn wieder einer eliminiert wird und kommentiert die Szenerie. „Die Menge ist eigentlich die Hauptfigur des Werkes und entscheidet über Leben und Tod“, sagt Marie-Eve Signeyrole.
Der Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard (1923–2015) stellt in seinem zentralen Werk „Das Heilige und die Gewalt“ fest, dass es in jeder Gemeinschaft Opfer gibt. Diese Opfer werden von der Gemeinschaft auserwählt und tragen eine doppelte Funktion. Sie dienen sowohl als Sündenböcke als auch als Helden, da ihre Opferung der Gemeinschaft eine kathartische Reinigung beschert. Genau diesem Prinzip begegnen wir auch in Turandot.
Die Prinzen, die hingerichtet werden, sind zentral für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Es ist kein Geheimnis, dass in autokratischen Herrschaftsformen Gewalt ein zentrales Element ist, um eine Gleichschaltung zu erzielen. Mit Gewalt wird gedroht, mit Gewalt wird Einheit verkörpert.
Das alles erinnert an die Grundsituation dystopischer Filme, in denen das nahende Ende der Menschheit bzw. die Aufteilung der Welt in Jäger und Gejagte thematisiert wird. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass Filme wie The Hunger Games (2012) oder Children of Men (2006) für Marie-Eve Signeyroles Lesart als Inspirationsquelle dienten.
Von Benedikt Stampfli