Zur Entstehung
Nur eine Caprice?
Folgt man der »Encyklopädie Musik-Wissenschaft« von 1840, dann bedeutet »Capriccio, Caprice (Laune, Grille) eine freie Fantasie, ein launenhaftes, willkürlich scheinendes Kunstwerk, in welchem der Komponist, was Plan, Ausführung und Gedankenfolge anlangt, sich mehr seiner Laune als der strengen Ordnung und Form einer bestimmten Gattung überlässt: ‚Je wunderlicher und außerordentlicher es ist, desto mehr verdient es seinen Namen.‘« Und tatsächlich mutet »Capriccio« nicht nur, aber vor allem auch auf Grund der Zeit-Umstände seines Entstehens zumindest wunderlich an …
Denn die Jahre von 1934 bis zur Uraufführung waren in Europa bekanntlich eine Zeit fortschreitender Kriegsereignisse und politischer Radikalisierungen. Und am 28. Oktober 1942 kam mit »Capriccio« am Nationaltheater in München unter der Schirmherrschaft von Reichsminister Dr. Joseph Goebbels ein Werk zur Uraufführung, dessen Inhalt und Ästhetik in krassestem Widerspruch zu den Brutalitäten des Zeitgeschehens und zur Ausweglosigkeit millionenfacher Lebenswege stehen. Der Ort der Handlung liegt bei Paris im Jahre 1775. Wir befinden uns in der Hochblüte des Rokoko, als in der Metropole mit Leidenschaft zwischen den Anhängern Christoph Willibald Glucks oder jenen von Niccolo Piccinni über die Oper gestritten wird – und nur wenige Jahre vor den Europa schockierenden Jahren des Terreur der französischen Revolution, vor Massenmorden und Verfolgung und dem Zerfall all dessen, was man im Ancien Régime als »Kultur« zu bezeichnen pflegte. Auf die Frage, ob diese zeitliche Platzierung der Handlung Zufall gewesen sei, antwortete Rudolf Hartmann, der Regisseur der Uraufführung (wie der Dresdner Erstaufführung im Januar 1944): »Nein, Zufall nicht – denn die vielen Gespräche waren oft genug überschattet durch die deprimierende Wirkung der immer stärker fühlbaren Erschwerung des Theaterbetriebs, vor allem aber durch die offen zutage tretende Gleichgültigkeit der Machthaber allen kulturellen Dingen gegenüber, die sich zu bösartiger Feindseligkeit entwickelte.« So gesehen, kann die scheinbar heitere und schwerelose Caprice des damals 78-jährigen Richard Strauss als ein zeitgeschichtliches Dokument ästhetischer Opposition oder zumindest doch als Verweigerung gelesen werden.
»Frau Gräfin, das Souper ist serviert.«
In einem Schloss bei Paris laufen währenddessen die Vorbereitungen für den Geburtstag der kunstsinnigen Gräfin Madeleine. Der Bruder der Gräfin, selbst Liebhaber des Schauspiels – und ihrer Protagonistinnen –, hat den erfahrenen Theaterdirektor La Roche sowie den Dichter Olivier und den Komponisten Flamand auf das Schloss gebeten. Und gleich zu Beginn der Oper beobachten die beiden in die Gräfin verliebten Künstler, wie sie einem von Flamand komponierten Streichsextett hingegossen lauscht … Olivier wiederum hat für die Gräfin ein Drama gedichtet, aus dem der Graf und die ebenfalls angereiste Schauspielerin Clairon eine Szene deklamieren, die in einem Sonett des Pléiade-Dichters Pierre de Ronsard gipfelt. Dieses Sonett rezitiert der Autor Olivier als Liebeshuldigung für die Gräfin, während Flamand es am Spinett in Musik setzt und damit gleichfalls um Madeleine wirbt. Damit ist der Grundkonflikt der inneren Handlung geprägt: Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wort und Musik.
Aus dem Diskurs entsteht schließlich die Idee, dass Flamand und Olivier eine Oper verfassen sollen: »Schildert euch selbst! Die Ereignisse des heutigen Tages – was wir alle erlebt.« Die beiden sind begeistert, verknüpfen aber mit ihrer Arbeit an Dichtung und Komposition eine Entscheidung – und damit Liebeswahl – Madeleines. Diese entzieht sich dem Urteil: »Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen? Bin ich nicht selbst in ihm schon verschlungen? Entscheiden für einen? … (zu ihrem Spiegelbild) … Du Spiegelbild der verliebten Madeleine, kannst du mir raten, kannst du mir helfen den Schluss zu finden für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?« Mit dem Schlussmonolog der nach Schönheit und Liebe dürstenden Gräfin Madeleine hat Richard Strauss gleichsam seinen Abschied formuliert. An Clemens Krauss schrieb er: »Ist nicht dieses Des-Dur der beste Abschluss meines theatralischen Lebens-Werkes?« Und die Frage nach dem rechten Schluss der Oper beantwortet er in seltener Lakonie mit dem Auftritt des Haushofmeisters selbst: »Frau Gräfin, das Souper ist serviert.«

»Verstandestheater, Kopfgrütze, trockener Witz!«
Den Hinweis auf den Stoff verdankte Richard Straus noch Stefan Zweig, der 1934 auf das Libretto »Prima, la musica, poi le parole« – »Zuerst die Musik, dann die Worte« – von Giambattista Casti gestoßen war. Strauss ahnte, dass hinter dem Titel mehr als eine flache Parodie auf den Theateralltag steckte: die für die Herausbildung der Oper in der Florentiner »Camerata« entscheidende und bereits von Monteverdi diskutierte Frage nach der Vorherrschaft von Sprache oder Musik in der Wort-Vertonung. Stefan Zweig formulierte zwar eine Skizze, delegierte ihre Ausarbeitung aber an Joseph Gregor: zur Enttäuschung des Komponisten, der daraufhin jenen Brief schrieb, der von der Gestapo abgefangen wurde und zum Verbot von »Die schweigsame Frau« führen sollte. Strauss beauftragte – nach eigenen Vorarbeiten – Clemens Krauss, das Libretto zu schreiben. Seine Vorgabe war dabei eindeutig: »Keine Lyrik, keine Poesie, keine Gefühlsduselei: Verstandestheater, Kopfgrütze, trockener Witz!«
»Eine neue Dimension des Schwebezustands«
Musikalisch ist Richard Strauss mit »Capriccio« in retrospektiver Weise eine Verschmelzung jener großen Vorbilder gelungen, die er zeitlebens verehrte: Wolfgang Amadeus Mozart und Richard Wagner. In sublimierter Meisterschaft schuf er mit dem »Konversationsstück für Musik« dabei noch einmal ein neuartiges Werk, das in der glückhaften Verbindung von Text und Musik von einem überaus durchsichtigen Parlando und Konversationsstil geprägt ist. Eingeflochten hierein sind die unterschiedlichsten geschlossenen Formen – das klangprächtige Streichsextett gleich zu Beginn oder das Sonett, dessen Kantilene in dem sich anschließenden Terzett eine hymnusartige Steigerung erfährt und in der Schlussszene der Gräfin wiederkehrt. Die satztechnische Meisterschaft des Komponisten offenbaren schließlich die großen Ensemblesätze wie das Lach- und Streit-Oktett oder die als große Fuge komponierte Diskussion über das Leitthema Wort oder Ton …
»Capriccio«, das ist musikalischer Hochgenuss, Lakonie, Witz, Reflexion, Weltflucht; eine Oper über die Unmöglichkeit der Oper, und die Überwindung der Oper mit ihren eigenen Mitteln. Der Musikwissenschaftler Stefan Kunze hat es so formuliert: »Die delikate Mischung von Ironie, rückblickender und vorausblickender Resignation, von Wehmut und Einsicht, von emotionaler Anteilnahme und Distanzierung ergibt eine neue Dimension des Schwebezustands, die nicht zuletzt deshalb gefangen nimmt, weil sie mit konventioneller, trivialer Dramaturgie, mit dem Pathos der Oper oder des Musikdramas nichts mehr zu schaffen hat«.
Johann Casimir Eule