Interview
Wir müssen vor allem fähig sein, uns selbst zu vergeben
Der Choreograf Johan Inger im Gespräch
Warum »Peer Gynt«? Was waren deine ersten Überlegungen zu diesem Stoff?
Johan Inger Ich habe Henrik Ibsens »Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht« nach vielen Jahren wieder gelesen, und gemeinsam mit meinem Dramaturgen Gregor Acuña-Pohl ergaben sich fruchtbare Gespräche über die Figur und den Stoff. Sehr bald kristallisierten sich in den Gesprächen und der Idee, ein abendfüllendes »Peer Gynt«-Ballett zu kreieren, die Parallelen der Figur zu meinem eigenen Leben heraus, die sich vor allem in Peers Reisen manifestieren. Da sind zum einen die verschiedenen Orte und die Länder, in denen ich gelebt habe; und eng damit verbunden spiegelt sich darin auch meine ganz persönlichen Reise durch die Kunstform Tanz. Ich habe sehr traditionelles klassisches Ballett getanzt, bin weitergezogen an das Nederlands Dans Theater, habe mit vielen verschiedenen zeitgenössischen Choreografen gearbeitet und dann selbst begonnen, Stücke zu kreieren. Ich wurde recht jung zum Chef des Cullberg Balletts. Das eröffnete mir ganz neue Aspekte, neue Perspektiven auf die Tanzwelt. Im Moment lebe ich in Spanien und reise als freischaffender Choreograf viel um die Welt. Diese eigenen Lebensstationen habe ich sozusagen in der Konzeption dieses Balletts auf die Figur Peer Gynt übertragen.

Peer Gynt tanzt sich in deinem Stück nicht einfach durch die literarische Vorlage; ist er denn in deinem Stück selbst zum Tänzer geworden?
Johan Inger Ja, er ist ein Tänzer. Seine Stationen sind das Königlich Schwedische Ballett in Stockholm. Aber er fühlt sich künstlerisch nicht wirklich zu Hause dort. Er bleibt ein Fremdkörper – fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes fremd in seinem Körper. Das ist natürlich genau meine Geschichte, die Peer da zu Beginn auf der Bühne zeigt. Und ebenso wie für Peer in diesem Ballett, war auch für mich das Stück »Gamla Barn« von Mats Ek eine Art künstlerisches Erweckungserlebnis. Es hat mich gepackt, aufgewühlt, mir gezeigt, dass Tanz noch viel tiefer gehen kann, subtilere Emotionen heraufbeschwören zu vermag, als es das klassische Ballett bei mir je konnte. »Gamla Barn« hat meine Vorstellung von Tanz komplett verändert, mich total inspiriert.
Heißt das, dass wir an diesem Ballettabend einen Originalausschnitt aus dem Stück »Gamla Barn«, das 1989 von Mats Ek choreografiert wurde, sehen werden?
Johan Inger Freundlicherweise hat Mats Ek mir erlaubt, eine Sequenz aus »Gamla Barn« in meinen »Peer Gynt« einbauen zu dürfen. Wir haben uns für diese Sequenz auch von den Originalkostümen inspirieren lassen, und so sind die Figuren gut wiedererkennbar. Ich freue mich wirklich sehr, dass ich mich nach Jahren diesem Stück, das mir persönlich viel bedeutet, auf eine ganz neue Art nähern kann. Nicht als Tänzer, sondern als Choreograf, der es zitiert.
Du selbst warst Tänzer beim Nederlands Dans Theater, später wurdest du Direktor des renommierten Cullberg Balletts – und schickst nun in diesem Ballett auch deinen Protagonisten Peer an diese Stationen.
Johan Inger Für mich war das Nederlands Dans Theater definitiv der Höhepunkt meiner Tänzerkarriere. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt und so viel gelernt. Ich wurde zum Choreografen und habe dann auch noch das Angebot bekommen, Direktor des Cullberg Balletts zu werden. Mehr geht eigentlich gar nicht. Peer Gynt sagt bei Henrik Ibsen: »Ich werde der Kaiser der Welt.« Und genau das ist er auch in diesem Moment in diesem Ballett.
Jetzt bist du ein erfolgreicher freischaffender Choreograf und lebst mit deiner Familie in Spanien. Hier müsste nun eigentlich auch die Reise des Tänzers Peer Gynt enden. Ist es ein Blick in deine eigene Zukunft, die du mit dem Ende des Balletts auf die Bühne bringst?
Johan Inger Richtig, ab einem gewissen Zeitpunkt – auf der Bühne gibt es an dieser Stelle ein Blackout – wird das Geschehen rein spekulativ; ich weiß natürlich nicht, was die Zukunft bringt, und deshalb bekommt hier Ibsens Geschichte wieder Bedeutung für mich. Die Fragen: wer man ist, was man ist, wer will man sein, und auch wer will man eigentlich nicht sein, stellen wir uns irgendwann. Das Bild vom Schälen der Zwiebel ist doch recht einprägsam am Ende der Geschichte. Es ist eine wunderbare Metapher für das Fragen und Suchen und auch das Hinterfragen, wenn man älter wird, reifer. Ein kritischer Rückblick auf die eigene Vergangenheit. Meinen Tänzer Peer also schicke ich ab dem Moment, an dem er in der Gegenwart ankommt, in eine imaginierte Zukunft. Ich habe mir eine Zukunft und ein Ende für Peer ausgedacht, das ich eher fürchte, als dass ich es mir wünschte. Ich lasse ihn ganz bewusst die falschen Entscheidungen treffen. Es ist der Punkt Null in der Inszenierung.
Könnte man die Reise deines Peers und die Fragen nach dem »Wer sind wir?« mit deiner künstlerischen Suche nach oder der Auseinandersetzung mit einem eigenen Stil gleichsetzen? Als eine – grob gesagt – Metapher für das kreative Schaffen?
Johan Inger So, wie man sich im Leben diese Fragen vielleicht stellt, so stellt man sie sich natürlich auch als Künstler. Das muss man, das muss ich. Ich verspüre als Künstler ganz stark den Drang danach. Als Choreograf beginnt man mit einer Handvoll ›tools‹ die man bis dahin erfahren, gelernt hat: die Stile, die choreografische Sprache, die Musik, mit der man bisher zu tun hatte. Und dann gibt es den Punkt, an dem man mehr will, mehr wissen möchte – und einen Schritt weitergehen muss; einen Drang, künstlerisch nach etwas zu fragen, das anders ist als alles, was man bisher erlebt und geschaffen hat. Ich würde das mit einer Art Identitätskrise gleichsetzen: so drängend und gelegentlich schmerzhaft ist dieser Impuls.
Das Ende von »Peer Gynt« beinhaltet ja die Botschaft, dass, wie Marie Luise Kaschnitz so schön über Peer sagt, die Hoffnung auf Erlösung nur in der Liebe liegt. Ist das auch die Botschaft deines »Peer Gynt«?
Johan Inger Ja. Liebe, Hoffnung, Vergebung – das sind menschliche Bedürfnisse. In dieser Welt der großen Missverständnisse sind diese Qualitäten extrem wichtig und machen uns zu Menschen. Durch sie erlangen wir ein Verständnis für eine Art Weisheit. Es geht ja in diesem Stück auch um Weisheit. Und um die Erkenntnis, dass wir am Ende alle allein sterben werden. Wir können einander vergeben, aber wir müssen vor allem fähig sein, uns selbst zu vergeben. Wenn es eine andere Welt gibt, dann ist das das Wichtigste, das du mitnehmen kannst.
Das Gespräch führten Bettina Fischer und Gregor Acuña-Pohl für das Programmheft der Uraufführung von »Peer Gynt« am Theater Basel.