Uraufführung & Welterfolg
Jacques Offenbach und »Die Großherzogin von Gerolstein«
Paris 1867. Das Jahr der Weltausstellung, Monate ununterbrochener Zeremonien und Paraden, Feste und Empfänge, Redouten und Preisverleihungen. Im Tuilerienpalast geben sich die Fürstlichkeiten der Zeit die Klinke in die Hand. Da fährt eines Tages eine noch junge, sehr attraktive Frau in prächtiger Robe vor und begibt sich zum Großen Salon, wo ein Empfang des Kaiserpaares stattfindet. Ein Saaldiener steht am Portal, begehrt das Einladungsschreiben zu sehen. Die junge Frau blickt ihn sehr indigniert von oben herab an und sagt mit fester Stimme: »Ich bin die Großherzogin von Gerolstein!« Und der Türsteher gibt den Weg frei, indem er seines Amtes waltet und laut ankündigt: »Ihre Hoheit, die Großherzogin von Gerolstein!« Und Hortense Schneider, die Titeldarstellerin von Jacques Offenbachs neuester und sehr populärer Opéra-bouffe, »La Grande-Duchesse de Gérolstein«, betritt majestätisch den Großen Salon der Tuilerien, um Napoleon III. und seiner Frau Eugénie die Aufwartung zu machen.

Soweit die Anekdote. Sie stimmt in dieser Form mit Sicherheit nicht, schon deshalb nicht, weil sie in mehreren Fassungen überliefert ist und weil es noch andere, ähnliche Anekdoten gibt. Sie sei hier trotzdem an den Anfang gestellt, weil sie den Geist einer Gesellschaft widerspiegelt, für die die Verwischung von Schein und Sein durchaus typisch war und in der eine »Theaterprinzessin« durchaus als anerkannte Fürstlichkeit durchgehen mochte. Die sog. »Offenbachiade«, d.h. die auf Jacques Offenbach zurückgehende Gesellschaftssatire in Gestalt des Musiktheaters, erreichte in diesem Jahr 1867 ihren Höhepunkt, eine Art »Weltherrschaft«. Der Komponist war 1867 auf dem Zenit seines Ruhmes und lebte im Stress und im Glück (was für ihn dasselbe war). In Paris spielte man an den verschiedensten Theatern sieben seiner Stücke, in Bad Ems kamen zwei neue Einakter heraus. Wien sah die Premieren von vier Offenbach-Stücken, Berlin deren zwei. Und so konnte das Journal »L’Illustration« unter dem 20. April 1867 konstatieren: »Offenbach allein ist eine musikalische Epoche. ... Er ist zu seiner Zeit gekommen, ... er fasst eine Epoche zusammen wie Julius Cäsar, Dante, Shakespeare und Napoleon die ihre.«
Jacques Offenbach und die »Offenbachiade«
Jacques Offenbach, 1819 in Köln geboren, war 1833 als Cello-Student nach Paris gekommen und in den Folgejahren als Virtuose auf seinem Instrument, als Komponist für die Salons und Ballsäle bekannt geworden und war von 1850 bis 1855 als Kapellmeister an der Comédie-Française engagiert gewesen. 1855, mit der Eröffnung seines Théâtre des Bouffes-Parisiens, war er sein eigener Herr geworden. Spätestens »Orphée aux Enfers« (1858, »Orpheus in der Unterwelt«) hatte ihn zu europäischer Berühmtheit katapultiert. Mit »La Belle Hélène« (»Die schöne Helena«) begann 1864, auf Texte seiner wichtigsten Librettisten Ludovic Halévy (1834-1908) und Henri Meilhac (1831-1897), der fast ununterbrochene Reigen von Meisterwerken, die weltweit Furore machten: »Barbe-Bleue« (»Blaubart«) 1866, »La Vie parisienne« (»Pariser Leben«) 1866, »La Périchole« 1868, »Les Brigands« (»Die Banditen«) 1869. Und dazwischen das Weltausstellungsstück, »La Grande-Duchesse de Gérolstein«.
Alle hohen Fürstlichkeiten, die Napoleon III. 1867 empfing, machten auch der Diva des Tages, der Großherzogin von Gerolstein, ihre Aufwartung: manche »nur« im Zuschauersaal des Théâtre des Variétés, das mittlerweile Offenbachs Stammhaus war, andere auch in Hortenses Künstlerinnenzimmer (etwa der englische Thronfolger, der russische Zar oder der ägyptische Vizekönig). »Die Prinzenpassage« nannte eine gehässige Konkurrentin dieses Boudoir. König Wilhelm von Preußen führte ihre Hunde spazieren, und angeblich bedauerte Papst Pius IX., als einziger europäischer Souverän »La Grande-Duchesse« nicht gesehen zu haben. Die Besucher hatten natürlich alle ein »kleines Mitbringsel« dabei, und das Vermögen der Hortense Schneider (1833-1920), in Diamanten ausgedrückt, übertraf nun noch jene 800.000,- fr, die es zur Zeit der »Schönen Helena« betragen hatte. Zum Vergleich: Für Hortenses monatliche Gage als Großherzogin musste eine Arbeiterin aus Lille zehn Jahre lang arbeiten. Und um auf den erwähnten Wert der Diamanten zu kommen, hätte ein zeitgenössischer Textilunternehmer den Reingewinn von 25 Jahren zur Seite legen müssen. Er entspricht in etwa 2,1 Mill. Euro.

Was machte nun den Erfolg der »Offenbachiaden« und ihrer Hauptdarstellerin aus? Darauf gibt es nicht die eine Antwort, sondern ein Bündel von Antworten.
Da ist zunächst Offenbachs mehrschichtige, doppelbödige Musik, eine »verkleidete Musik«, wie René Leibowitz sie genannt hat. In allen Offenbachiaden spielt sie mit den Versatzstücken der musikalischen Tradition, versammelt ihre erodierenden Formen noch einmal zu einem rauschhaften Fest: Couplets, Arien, Auftritts- und Abgangschöre, Trinklieder, Märsche und Romanzen, große Chorszenen. Eine Musik von melodisch-rhythmischer Unwiderstehlichkeit, eingehüllt in eine durchsichtig schimmernde Instrumentierung, auf der Basis gewollter harmonisch-satztechnischer Einfachheit und unter Verwendung überschaubarer Strukturformen.

Offenbach legte großen Wert auf das musikdramatische Zusammenspiel von Musiknummern und Dialog. Während der Arbeit an »Die Großherzogin von Gerolstein« schrieb er in diesem Sinne an Meilhac und Halévy: »Ich habe Euren zweiten Akt wieder und wieder gelesen, es fehlt ihm gänzlich an Heiterkeit. Außerdem habt Ihr den Anteil für die Musik wie Anfängerautoren gemacht ..., nehmt, außer dem Finale, alle Musiknummern weg, und Ihr werdet sehen, dass die Musik völlig überflüssig ist, und ich gestehe, dass ich, außer dem Finale, außerstande wäre, etwas zu machen, etwas Gutes, wie sich versteht; statt schlechter Musik sollte man besser gar keine machen.«
Die angeblich in einem Fantasiefürstentum (nämlich dem fiktiven Gerolstein aus Eugène Sues Abenteuerroman »Les Mystères de Paris« von 1842/43) und angeblich im 18. Jahrhundert angesiedelte Handlung der »Großherzogin« zielte sehr genau auf aktuelle Befindlichkeiten: den um sich greifenden Militarismus und den schlechten Zustand der französischen Armee, die lächerliche deutsche Kleinstaaterei (deren Darstellung Bismarck beim Besuch einer Vorstellung sehr belachte), drohende Kriegsgefahren – kein Jahr nach der Schlacht von Königgrätz – rund um das Großherzogtum Luxemburg. Den Librettisten war diese Dimension sehr wohl bewusst. Ludovic Halévy: »Diesmal nehmen wir den Krieg aufs Korn, den Krieg, der vor unseren Toren steht.«
Neben aller tagespolitischen Aktualität aber überhöht das Libretto seine Figuren zu überzeitlichen Typen: die liebeshungrige junge Frau, der etwas einfältige junge Mann vom Lande, der lächerliche Liebhaber, der aufschneiderische Soldat, die intrigante Hofschranze, der kalte Machtpolitiker.
Schließlich ist jeder Offenbachiade eine gehörige Portion libertärer Erotik zu eigen, die sich in der mannstollen, auf Uniformträger »abfahrenden« Großherzogin manifestiert und die »La Snédèr« mit ihrer hypnotisierenden Ausstrahlung, dem elektrisierenden Schwung ihrer Hüften und einem skandalumwitterten Lebenswandel idealtypisch verkörperte. »Mit Jacques Offenbach«, kommentiert der Operetten-Spezialist Albert Gier, »hält die Sinnlichkeit Einzug ins musikalische Lachtheater.«
Uraufführung und Welterfolg
Dennoch war die Premiere des Stücks am 12. April 1867 im Théâtre des Variétés kein unangefochtener Erfolg. Wir wissen aus einem langen Tagebucheintrag von Ludovic Halévy, dass bis zur Mitte des II. Aktes alles glänzend aufgenommen wurde, dann aber das ursprüngliche große Chorfinale mit dem – hinreißenden – »Carillon der Großmutter« nicht gefiel und auch nicht die Parodie auf Meyerbeers »Die Hugenotten« im III. Akt. Die Autoren strichen daher diese Nummern, an die Stelle des Chorfinales trat das vom Beginn des Aktes verlegte Verschwörerterzett. In dieser Gestalt wurde das Stück ab der dritten Vorstellung zu einem Triumph.

Mir scheinen aber noch andere Kriterien eine Rolle zu spielen: »La Grande-Duchesse de Gérolstein« führt den kleinen Soldaten Fritz, der durch die Protektion der mannstollen Großherzogin hoch steigt und tief wieder fällt, als er an der Liebe zu seiner Wanda festhält, in eine Welt der Komplotte und Winkelzüge, der gleichgültigen Heiraten und der gleichgültig vom Zaun gebrochenen Kriege, der Verschwörungen und Hinterhalte, in eine lebensgefährliche Welt also, der er mit mehr Glück als Verstand am Ende entrinnt. Die »Grande-Duchesse« ist über weite Strecken nicht komisch, sie ist mit den »Brigands« die bitterste der Offenbachiaden, auch die resignativste: »Wenn man nicht haben kann, was man liebt, muss man lieben, was man hat«, lautet die letzte Prosazeile des Librettos. Mit ihr fügt sich die Großherzogin in ihr Schicksal, den Prinzen Paul heiraten zu müssen. (Seitensprünge einkalkuliert, versteht sich.) Fritz und Wanda aber bekommen ihr »happy end«. Insofern blickt diese vielfach so scharf satirische »Großherzogin« schon voraus auf sentimentalere Varianten der Offenbachiade wie »La Périchole« (1868) oder »La Princesse de Trébizonde« (1869).
Die Neuausgabe durch Jean-Christophe Keck (Boosey & Hawkes/Bote & Bock, 2012) macht zum ersten Mal alle von Offenbach für das Stück komponierten Musiknummern zugänglich. Nimmt man dieses Material zur Hand, so erkennt man gerade anhand der nach der Uraufführung gestrichenen Musik, dass das Stück, bei aller für Offenbach so typischen Lebensbejahung, ursprünglich mehr tragödienhafte Elemente aufwies, als bei einer opéra-bouffe zu vermuten wäre. Ausgerechnet nach dem turbulenten II. Finale (das aber das Codewort für einen verabredeten Mord liefert!) kippt die Komödie in eine Atmosphäre der Beklemmung, in der sich Ernst und Parodie unnachahmlich mischen: die düstere Meditation der Großherzogin über die sich stets wiederholenden Verbrechen der Mächtigen, ihr zwischen getragener Geschichtsphilosophie und gefährlicher Lustigkeit wechselndes Duett mit dem General Boum und natürlich die Weihe der Dolche in dem großen Ensemble, das Meyerbeer zitiert. Das Publikum von 1867 aber mochte derlei Düsternisse nicht, und ein auf wirtschaftlichen Erfolg angewiesenes Privattheater, eine Autorengruppe unter Erfolgszwang und eine Diva, die ihren Starruhm behalten wollte, gaben dem Druck nach. Eine heutige Inszenierung könnte die eiligen Striche nach der Premiere infrage stellen und nach der ursprünglichen Autorenintention fragen, und vielleicht steht ein heutiges Publikum solchen rasanten Stimmungswechseln durchaus aufgeschlossen gegenüber. Die Frage nach der authentischen Fassung eines Offenbach-Stückes ist nicht immer eindeutig zu beantworten.
Die Gerolsteiner »Großherzogin« wurde schon im November 1867 in Paris zum 200. Mal gespielt. Sie gelangte noch 1867 nach Wien (mit der legendären Marie Geistinger in der Titelrolle), Budapest, London und New York, 1868 nach Berlin und Melbourne. 1926 nahm sie Karl Kraus in sein legendäres »Ein-Mann-Theater der Dichtung« auf. Sie gehört heute mit »Orpheus«, »Helena«, »Pariser Leben« und »Périchole« zu den fünf »Operetten« Offenbachs im internationalen Standardrepertoire.
»Das Publikum soll lachen. Aber nicht über harmlose Nebensachen, sondern darüber, dass gefährliche Hauptsachen sich bezwingen lassen.« Daher machen alle Offenbachiaden glücklich. Ihr Glück finden sie im Idealbild des lichterfunkelnden Paris, das durch die stoffliche Verkleidung eines jeden Stücks, auch der Großherzogin, immer durchscheint und das als Legende ganze Generationen überdauert hat.
Wahrhaftiger als historische Expertisen trifft daher das Wesen einer Epoche manche Anekdote. Noch eine zum Abschluss: Eines Tages fährt Hortense mit der Eisenbahn zu den Pferderennen von Chantilly. Ein mit Öl hantierender Arbeiter kommt unglücklicherweise an ihre zartrosa Robe. Sie erregt sich, überschüttet den Unglücklichen mit Vorwürfen, der sich anschickt, entsprechend zu antworten, als ihm jemand ins Ohr flüstert: »Das ist die Großherzogin von Gerolstein.« Und der Schuldige – der noch nicht im Théâtre des Variétés gewesen ist – lüftet verschämt seine Mütze und ängstigt sich vor allerlei diplomatischen Verwicklungen größeren Ausmaßes.
Peter Hawig