Entstehungsgeschichte

Liebe, Eifersucht und Tod

Der Wachsoldat Don José verliebt sich in die Zigarettenarbeiterin Carmen – und Carmen verspricht, seine Gefühle zu erwidern, wenn Don José sie, die nach einem blutigen Streit in Gewahrsam genommen werden soll, laufen lasse. Carmen flieht und begibt sich zu ihren Gefährten, den Schmugglern, am Rande der Stadt Sevilla. Nachdem Don José für den Vorfall von seinem Vorgesetzten Zúniga degradiert worden ist, folgt er Carmen in die Illegalität. Doch die flammende Liebesbeziehung hält nur kurz. Carmen, freiheitsliebend wie sie ist, wird Don Josés eifersüchtiger Liebe überdrüssig und geniest die Verehrung des Toreros. Das tödliche Drama nimmt seinen Lauf. So weit, so bekannt.

Dennoch ist es immer wieder spannend, über Carmen nachzudenken, den Stoff zu gestalten, ihn zu besingen und zu vertanzen. Zu vielfaltig sind die Implikationen des Stoffes, interessant die Rezeptionsgeschichte, bedrängend die Aktualität des dargestellten Geschlechterverhältnisses. Wo also anfangen? Vielleicht beim sogenannten Tagesaktuellen. Kürzlich erschien eine Studie zur Gewalt zwischen den Geschlechtern in Deutschland. Abgesehen davon, dass auch die Zahlen zur Ausübung körperlicher Gewalt von Frauen leicht ansteigen, sind Frauen immer noch und immer wieder massiven Tätlichkeiten ausgesetzt. Einige Aspekte lassen aufhorchen und sind besonders unbequem. Rechnerisch stirbt jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag eine Frau durch die Hand eines Mannes in Deutschland. Die meisten Taten sind Beziehungstaten. Der gefährlichste Mann ist der (Ex-)Partner, der tödlichste Ort das eigene Zuhause. Und auch wenn ein höherer Bildungsgrad tendenziell schützt: Die Gewalttaten finden in allen Milieus statt, das Töten des Mannes gehört zum weitgehend verschwiegenen Alltag. Das alles hat mit »Carmen« zu tun, weil die tragische Liebesgeschichte zwischen Carmen, Don José und dem Torero vor allem auch eine Geschichte um Liebe, Eifersucht und den Mord Don Joses an Carmen ist.

Der Choreograf Johan Inger hat sich den Stoff für sein erstes abendfüllendes Handlungsballett ursprünglich nicht selbst ausgesucht – die Choreografie von »Carmen« ist ein Auftragswerk für die berühmte Compañía Nacional de Danza in Madrid aus dem Jahre 2015. Für diese war die Stoffwahl naheliegend, gilt »Carmen« doch als urspanisches Sujet. Der Schwede Inger hat dann das gemacht, was man macht, wenn man sich einen möglicherweise fremden Stoff neu erarbeiten will: Er hat sich mit der Oper von Georges Bizet, vor allem aber mit der Grundlage des Mythos, der Novelle »Carmen« des französischen Autors Prosper Mérimée, auseinandergesetzt. Seinen ersten Eindruck beschreibt er so: »Als ich diese Geschichte zum ersten Mal las, fiel mir auf, dass sie vor allem von Gewalt handelt.« 

Wenn man daran denkt, wie schockiert auch das Publikum bei der Uraufführung der Oper »Carmen« von Georges Bizet im Jahre 1875 auf die ungewöhnliche Drastik und den tödlichen Ausgang reagierte, überrascht das nicht. Was bei Bizet, vor allem aber in der Novelle aus dem Jahre 1845 verstärkend noch hinzukommt, ist der raffiniert gestrickte Plot und die Erzählweise, die dem Leser suggerierte, dass die beschriebenen Vorgänge nicht nur aus erster Hand berichtet werden, sondern sich auch wirklich so zugetragen haben. Gestützt wurde dieser Eindruck dadurch, dass die Novelle in der französischen »Revue des Deux Mondes« erschien – einer etablierten seriösen Zeitschrift, in der dem Pariser Leser Erlebnis- und Reiseberichte aus »exotischen« Landen geboten wurden.

Blinde Leidenschaft und zermürbende Rachegelüste

Für die literarische Figur der Carmen und das damit verbundene Frauenbild hatte dies Konsequenzen. Prosper Mérimée – und auch Bizet – zeigen Carmen als den damals aktuellen Frauentyp der »Femme fatale«. Dass die so genannte Femme fatale eine männliche Fiktion ist, muss nicht extra betont werden. Ausschlaggebend ist, dass bis zu »Carmen« die Femmes fatales in Literatur, Dichtung und Malerei auch immer deutlich als Angst-Lust-Fantasien zu erkennen waren: Eine Salome, die Sphinx, Pandora oder Sirenen waren nicht real. 

Ihnen allen ist gemein, dass der Mann sich ihrer rätselhaften, erotischen Macht unwiederbringlich ausgeliefert sieht – und zum fatalen Opfer dieser für ihn tödlichen Frau wird.

Bei »Carmen« wird durch die Umdeutung der literarischen Fiktion eine Tatsachenbehauptung. So gelesen, ist der Typ der Femme fatale Realität, und der Mann auch dann noch Opfer der Frau, selbst dann, wenn nicht der Mann, sondern die Frau ermordet wird ... Wie der Mann – Don José – zum Opfer vielleicht weniger Carmens als vielmehr seiner Gefühle wird, das beschreibt Mérimée allerdings auch. Und Inger nimmt diese doppelte Perspektive auf: »In meinem Ballett steht nicht allein die weibliche Hauptfigur Carmen im Mittelpunkt der Geschichte. Wie in Prosper Mérimées Original konzentriert sich das Stück auf Don Josés Liebeskummer. Er ist unfähig, den Freiheitsdrang seiner Geliebten zu ertragen, und wird getrieben von blinder Leidenschaft und zermürbenden Rachegelüsten.«

Ein gesellschaftliches Drama

Des Weiteren suchte Inger nach einem Vehikel, um seinen »naiven« Blick auf das Geschehen zu etablieren und fügte der Geschichte eine neue Figur hinzu: »Ich wollte aus dem universalen Mythos Neues schaffen und habe mich dazu entschieden, mich auf die entstehende Gewalt zu konzentrieren. Eine Annäherung an das Thema wollte ich mithilfe einer reinen, unberührten Sichtweise zuganglich machen: der eines Kindes. Es ist eine Figur, die uns dazu bringen soll, einerseits das Geschehen mit unschuldigem Blick zu beobachten, die uns andererseits aber auch dazu zwingt, Zeuge davon zu werden, was die Gewalt wiederum mit diesem Kind macht.« Die Dreiecksbeziehung zwischen Carmen, Don José und dem Torero ist nicht nur eine private Liebestragödie – sondern ein gesellschaftliches Drama. Das Paradoxe der Kunst ist, dass sie uns immer wieder dazu »verführt«, uns das Tragische und Schreckliche des menschlichen Daseins zu vergegenwärtigen. Der Tanz verfügt hier über ganz besondere Möglichkeiten – rührt er doch unmittelbar über Rhythmus, körperliche Präsenz und Direktheit an Sinne und Emotionen. Besonders bei einem Stoff wie »Carmen«, bei dem der Tanz auf das Engste mit der Figur verbunden ist. Bereits bei Mérimée tanzt und singt die »Zigeunerin« Carmen unentwegt und vermittelt dadurch ihre Lebensfreude, provozierende Erotik und Sinnlichkeit. Und entgegen der landläufigen Meinung ist es auch nicht Bizet gewesen, der den Stoff für die Bühne entdeckt hat.

Kein Geringerer als Marius Petipa war es, der während seiner Zeit in Spanien von 1843 bis 1846 das erste Carmen-Ballett mit dem sprechenden Namen »Carmen et son toréro« kreiert hat. Seither haben sich immer wieder bedeutende Choreografen von Roland Petit über John Cranko zu Antonio Gades, Mats Ek oder Carlos Acosta mit dem Thema auseinandergesetzt. Und spätestens seit der Uraufführung des »Carmen«-Balletts von Alberto Alonso zur Musik von Rodion Schtschedrin, mit der legendären Maya Plissezkaja als Carmen 1967 in Moskau, gibt es auch eine veritable Ballettmusik zu »Carmen«. Rodion Schtschedrin arrangierte Bizets Musik neu für Streicher und insgesamt 47 Schlaginstrumente, und verstand es so, nicht nur die Abläufe zu verdichten, sondern vor allem den Melodien und Atmosphären Bizets eine elementare und treibende Wucht zu verleihen. Auch Johan Inger choreografiert seine »Carmen « hauptsächlich zu Ausschnitten aus der »Carmen-Suite« von Schtschedrin. Um aber zusätzlich Raum für seinen Blick auf Don José zu bekommen, bat er den spanischen Komponisten Marc Álvarez um neu komponierte Sequenzen. Alvarez stellte sich der Herausforderung, im Kontrast zu Bizets weltberühmten Melodien und Schtschedrins energiegeladener Rhythmisierung eine eigene Klangsprache zu etablieren; seine Komposition bietet emotionale Klang-Räume für die introspektiven Sequenzen. »Meine Musik sollte einen anderen Teil der Geschichte beschreiben, jenen kaum sichtbaren, den Geist der Figuren, die das Drama spiegeln. Ich musste begreifen, wie Carmen, Don Jose und die anderen denken.« Von dieser neuen Sicht auf den bekannten Stoff erzählt »Carmen« in Dresden – eindringlich, intensiv, anders.

Johann Casimir Eule