Interview

Das ständige Spiegeln in den Augen der Anderen

Johannes Erath, Heike Scheele und Gesine Völlm im Gespräch

Die Gestalt des Hoffmann beruht auf dem realen Dichter E. T. A. Hoffmann, erscheint in der Oper aber als fiktiver Charakter, der über sein historisches Vorbild hinausgeht. Wer ist diese Figur für euch?

Johannes Erath Hoffmann ist ein Mann mit einer ausgeprägten Sensibilität und Vielschichtigkeit, der in Extremen leben muss. Er lebt die romantische Maxime »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« auf eine poetische, aber auch auf eine fatale Art, weil er dazu getrieben ist, immer etwas faszinierendes Neues anzufangen, ohne es zu Ende bringen oder wirklich etwas erschaffen zu können. Dadurch eröffnen sich Abgründe in seiner Persönlichkeit. Auf sich selbst zurückgeworfen, versucht Hoffmann, sich in der Anwesenheit anderer Menschen nicht alleine zu fühlen, und trotzdem erkennt er, dass er einsam ist. Und von Geschichte zu Geschichte wird er desillusionierter, frustrierter, verbitterter. Darunter schwelt eine wahnsinnige Angst. Das ist eigentlich der Grundmotor. Aber Angst hat immer mit Sehnsucht zu tun – wovor wir Angst haben, dort treibt es uns hin.

Heike Scheele Hoffmann aber macht immer wieder kaputt, wonach er sich sehnt ...

Johannes Erath Ja, das ist ein ganz wichtiger Aspekt seines Charakters: das Sehnen nach irgendetwas, es aber nicht ertragen zu können, wenn es eintritt – und deswegen dieses ständige Kaputtmachen. Bevor man ihm etwas zerstört, vernichtet er es lieber selbst. Daraus spricht auch eine unfassbare Verlustangst. Das ist vielleicht die Idiotie dieses Stückes: Zunächst scheint es, als würde ein anderer Hoffmanns Glück zerstören, aber beim näheren Hinsehen ist er es – unterbewusst – selbst. Dabei spielt die Frage nach Verantwortung und Schuld eine große Rolle.

Das wird ja gern verwechselt, und daraus entsteht der Reflex, sein eigenes Versagen zu exterritorisieren, also es einem anderen in die Schuhe schieben zu müssen. Doch indem Hoffmann nicht die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, sich scheinbar aus jeder Situation herausschleicht, bevor es für ihn zu heikel wird, und seine inneren Konflikte nach außen auf andere projiziert, schafft er sehr fantasievolle Figuren, die seinen Charakter für uns klarer definieren. So, wie er die Figuren um sich herumbaut, erzählt er uns wahnsinnig viel darüber, wer er selbst eigentlich ist.

Heike Scheele Spannend an unserer Sichtweise finde ich allerdings auch, dass die beiden Antipoden, die Hoffmann zur Seite gestellt sind, die Muse und der »große Schwarze«, eine größere Gewichtung bekommen, als wir es in anderen Inszenierungen von »Les Contes d’Hoffmann« erleben konnten ...

Johannes Erath Mir ist beim zweiten Hinschauen viel klarer geworden, dass sie sich auch wechselseitig bedingen. Diese beiden Figuren werden ja schon eingeführt, bevor wir die »reale« Ebene des Stückes betreten, und sie ziehen sich durch das ganze Stück, kommunizieren aber miteinander so gut wie nie. Das bedeutet doch etwas? Warum gehen sich diese zwei Kräfte aus dem Weg? Vielleicht, weil sie Gegenkräfte schlechthin sind oder weil sie sich bedingen und deswegen auch kein Austausch möglich oder nötig ist.

Heike Scheele Das ist sehr faustisch. Mephisto sagt: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« Und dieses Prinzip verkörpern die Muse und die Gegenspieler für uns.

Gesine Völlm Ich sehe da auch schon einen vorpsychologischen Einfluss: Der »große Schwarze« kommt mir vor wie das dunkle Unbewusste, die Muse hingegen die helle Seite, das Über-Ich. Hoffmann versucht diese seine Dämonen erfolglos zu bannen, indem er eine Verschmelzung mit dem Weiblichen sucht – und zum Scheitern verdammt ist.

»Hoffmanns Erzählungen« ist ganz vielfältig lesbar – als Gruselgeschichte des  »Gespenster-Hoffmann« oder aber auch als psychologische Studie. Wie fasst ihr die Oper auf?

Johannes Erath Das Stück ist generell ein Sowohl-als-auch, da es so viele Facetten hat. Die Geschichten überlappen sich und spalten sich ab ...

Heike Scheele ... und sind ineinander verschachtelt ...

Gesine Völlm ... und zersplittert. Das Faszinierende, aber auch Anstrengende daran ist, sich zu entscheiden, welche Brocken man miteinander in Beziehung setzen möchte.

Heike Scheele So kamen wir schnell auf das Prinzip, Räume ineinander zu schachteln, scheinbar gleich und doch nicht gleich. Und in den Ritzen dazwischen taucht das Unheimliche auf, ...

Johannes Erath ... was auch das Parallelerzählen von subjektiven »Realitäten« ermöglicht.

Gleichzeitig haben wir in »Les Contes d’Hoffmann« aber auch immer das komische Element.

Gesine Völlm Ich entdecke das Komische vor allem in der Musik, als Kommentarebene. Das ist es, was das Existenzielle an dem Stück erträglich macht.

Heike Scheele Es ist zwischendurch immer wieder erleichternd, ein Aufatmen ...

Johannes Erath ... aber auch eine Übersprungshandlung. Wenn man alles andere nicht mehr erträgt, dann entsteht ein Humor, der viel mit Selbstironie zu tun hat. Humor kann etwas Heilendes sein. Aber ich glaube, er erzählt vor allem etwas über die Sprunghaftigkeit dieses Charakters. Hoffmann hat keine Übergänge. Er springt – und das ist das Faszinierende.

Die »originalen« Erzählungen E.T.A. Hoffmanns genauso wie Hoffmann als Vertreter der Schauerromantik scheinen urdeutsch zu sein. Was macht die französische Sprache mit diesem Stoff?

Johannes Erath Im Gegensatz zu anderen deutschen Stoffen, die von französischen Komponisten vertont wurden, wie zum Beispiel Gounods »Faust« oder Massenets »Werther«, die nur noch bedingt etwas mit den Werken Goethes zu tun haben, erscheint mir Offenbach sehr nah an Hoffmanns Geschichten geblieben.

Gesine Völlm Vielleicht liegt das einerseits daran, dass Offenbach ein ungeheurer Theatraliker ist, der das Theatermachen liebte und dadurch den direkten Zugriff auf diese Erzählungen fand, ohne sie zu parfümieren. Andererseits war der romantische Geist, der in den Geschichten dieses großen deutschen Erzählers schwebt, gar kein so ausschließlich deutscher, sondern vielmehr ein paneuropäischer.

Johannes Erath Diese Assimilierung, ohne die eigentliche Identität zu verlieren, wie es Offenbach gelungen ist, das ist mir sehr nah. Durch das Französische in »Les Contes d’Hoffmann« gibt es allerdings eine Form der Verfremdung, die es ein Stück geheimnisvoller macht. Ich kann es mir eigentlich gar nicht auf Deutsch vorstellen. Durch den kurzen Transfer in der Sprache, schaffe ich es vielleicht sogar noch besser, das Geschehen an mich heranzulassen. Denn das Stück funktioniert eigentlich nicht über den Kopf, sondern übers Herz. Die Musik geht sowieso nicht über den Intellekt, sondern direkt über die Emotionen, sie ist dadurch natürlich noch viel manipulativer. Die deutsche Sprache aber würde wieder rektifizieren mit ihrer Direktheit. Die französische Sprache hingegen gleitet mehr und hat etwas Subkutaneres.

Heike Scheele Und sie fügt dem Ganzen eine große Leichtigkeit hinzu.

Johannes Erath Diese Sprache passt sehr gut zu E. T. A. Hoffmann, denn der lebte in der Ambivalenz, in seinem Alltag wie in seinen Werken – genauso wie das Französische, in dem man vieles so oder so verstehen kann. Wir Deutschen haben für alles ein eigenes Wort, sogar Wortzusammensetzungen, um es millimetergenau auf den Punkt zu bringen. Im Französischen hat man viel öfter für mehrere Sachen einen Begriff und kann so viel schönere Wortspiele machen, jemanden mittels der Sprache auf das Glatteis führen, aber auch etwas verblümt sagen.

»Les Contes d’Hoffmann« ist ein Stück voller interpretatorischer Finessen und gleichzeitig von überbordender Fantasie, das den Theaterzauber scheinbar geradezu herausfordert. Eine Traum-Oper für jeden Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildner?

Gesine Völlm Das würde ich von jedem und keinem Stück behaupten, weil es natürlich auf den Zugriff ankommt.

Johannes Erath Das Fantastische ist ja kein Freibrief, sondern kann vielmehr eine Gefahr sein, ...

Heike Scheele ... beliebig zu werden und das Inhaltliche zu verlassen, um schöne Formen zu finden. Das hat dann etwas sehr Selbstreferentielles. Aber ich hoffe, wir haben die Gratwanderung geschafft, dass alles mit Inhalt unterfüttert ist und dass man Andockpunkte findet.

Johannes Erath Wir spielen auf jeden Fall mit Erwartungshaltungen, was das Stück betrifft, und da ist auch nicht alles so, wie es scheint.

Gesine Völlm Es ist vielmehr ein fragmentarisches Puzzle, das dem Werk sehr entspricht – und das in der Erarbeitung großen Spaß gemacht hat.

Johannes Erath Und das natürlich eine große Lust wecken soll, was Theaterzauber alles machen kann.

Die Fragen stellte Anne Gerber.