Regiekonzept
»Wotans Weltprojekt«
Regisseur Willy Decker zur Inszenierungskonzeption
»Stürmisch« – so lautet Wagners Angabe am Beginn der »Walküre«-Partitur. Ein Sturm weht durch dieses ganze Stück, bis zum Entfachen des Feuers, das Brünnhildes Schlaf schützt. Diese drängende Gewalt bleibt die zentrale Gewalt in der »Walküre«. Die Ruhe des »Rheingold« ist aufgehoben, die Harmonie der Welle wird aufgerissen. Der Beginn der »Walküre« ist kein natürliches, evolutionäres Weiterschreiten, sondern ist ein radikaler, entschlossener Schritt, getan mit der Kraft und der Unaufhaltsamkeit eines Sturmes. Und dieser Sturm heißt Wotan. »Das Rheingold« war Evolution – »Die Walküre« ist Revolution, kein natürlicher Schritt, der sich notwendig aus allem Vorherigen ergibt, sondern eher ein Sprung hinein in ein waghalsiges neues unerhörtes, noch nie da gewesenes Experiment. Im mythologischen Zusammenhang heißt dieses Experiment »Mensch«, im historischen Kontext müsste man es »der neue Mensch« nennen, vielleicht sogar »Revolutionär«.
So wendet sich der »Ring«-Zyklus am ersten Tag seinem eigentlichen Thema zu: dem Menschen. Und nicht nur mit Siegmund und Sieglinde erscheinen uns diese Menschen, auch die Götter sind aus den Wolken des »Rheingold« herabgestiegen, oder besser, herabgestürzt auf die Erde, den Boden einer konkreten Wirklichkeit, auf die Ebene des Menschlichen, die Ebene von Verstrickung, Kampf, Liebe und Tragik.
Der neue Mensch
Wotan weiß, dass Walhall und damit seine Göttlichkeit auf Sand gebaut ist, bezahlt mit dem verfluchten und alles Böse verkörpernden Ring des Nibelungen Alberich. Dieser Ring lastet wie eine Tod bringende Urschuld auf der Welt. Der Gott hätte ihn den Rheintöchtern, der Natur, zurückgeben müssen, aber wider jedes Wissen und jede Warnung hat er sich mit ihm seine Macht über die Welt gekauft. Diese Welt erhalten ihm nun die Gesetze, mit denen er das Chaos gezähmt hat. Da er selbst notwendigerweise diesen Gesetzen unterworfen ist, verstrickt er sich sozusagen in sein eigenes Netz. Er, der Geber des Gesetzes, kann nicht zum Brecher der Gesetze werden, ohne dass sein Machtgebäude in sich zusammenstürzt. Und so ist er machtlos gefangen in seinem eigenen System: »In eig’ner Fessel fing ich mich, ich unfreiester aller ...« Der Mächtigste ist gleichzeitig der Ohnmächtigste, unfähig, den Ring zurückzugewinnen und in die Fluten des Rheines zurück zu schleudern. In dieser bedrängten, tragisch ausweglosen Situation erdenkt Wotan sich den »Helden«, der unabhängig von ihm, dem Gott, unbelastet von seinen Gesetzen und Konventionen, sich selbst und die Welt befreien kann. Dieser »Held«, der neue Mensch hat noch keinen Namen. Siegmund und Sieglinde zögern, wenn sie nach ihrem Namen gefragt werden antworten nur indirekt: sie beschreibt sich hart und resigniert als Eigentum Hundings, er erzählt von seinen vergeblichen Versuchen einen Namen zu finden. Keiner er- wies sich als der Wirkliche. Durch Namen verbinden sich Menschen mit ihrer Kultur. Das erste, was ein Mensch von der Gemeinschaft empfängt, ist ein Name. Er ist sein Bindeglied zu dieser Gemeinschaft, ein Bekenntnis zum historischen Zusammen- hang. Mit diesem Namen reiht der Mensch sich ein, empfängt eine Identität, ein Ich. Dieses Ich ist determiniert durch Kultur, Konvention, Vernunft, Familienbande etc. Sieglinde und Siegmund aber stehen abseits, sind Verlorene, Außenseiter im inneren und äußeren Exil, unangepasst, unwillkommen der Gemeinschaft und ohne bekennende Verbindung zu ihr, ohne Namen eben. Dies alles ist Teil von Wotans Experiment und von ihm gewollt. Im äußersten möglichen Akt der Selbstbestimmung sollten sie sich selbst ihre Namen geben. Hier beginnt das Experiment: Der neue, freie bessere Mensch soll geschaffen werden. Wotan zieht sich Siegmund heran, herausgelöst aus der Gesellschaft, unwissend, ohne Namen, wild. Später, am zweiten Tag der Tetralogie, wird Mime dies mit Siegfried tun, jedoch mit einem anderen Ziel. Wotans neuer Mensch beginnt nun mit einem radikalen Bruch der Konvention, einem rebellischen Befreiungsakt, einem unumkehrbaren Tabubruch. Fricka und die in Abhängigkeit von den Göttern erstarrte, spießige Regelwelt Hundings nennt es »Blutschande«.
Die Tatsache aber, dass Wotan an seinen Neubeginn die Vereinigung eines Zwillingspaares setzt, ist Ausdruck der tief tragischen Problematik seines Planes. Er will sich, und nur sich selbst, in ihnen wiedererkennen. Er will das Neue, aber trotzdem auch sich selbst als eine Verkörperung des Alten mit hinüberretten. Wie Adam und Eva soll ein neues, geschichtsloses Urmenschenpaar geschaffen werden. Die herausfordernde Rebellion gegen alles Alte und Veraltete beginnt mit dem Sakrileg der Blutschande. Wotan zerbricht an diesem Widerspruch. Brünnhilde, seine Lieblingstochter, vermag es, im weiteren Verlauf des Geschehens die Gegensätze zu verbinden. Sie ist göttlicher Herkunft und bekennt sich zum menschlichen Sein. Sie kann Liebe und Mitgefühl miteinander verbinden, sie kann göttliche Weisheit mit Menschlichkeit zusammenbringen. Sie ist die Tochter von Erda und Wotan, die zwei gegensätzliche Prinzipien in ihrer stärksten Ausformung verkörpern: Erda als das totale, das Umfassende, das Weibliche, Wotan das fast grenzenlos Kreative, Schöpferische, Männliche. Beides fließt zusammen in der Figur der Brünnhilde. Dass sie am Ende der »Walküre« von Wotan in tiefen Schlaf versenkt wird, ist zwar eine Strafe dafür, dass sie sich seinem Gebot widersetzt hat. Es ist aber auch ein sehr bedeutungsvoller Vorgang, denn der Schlaf ist immer auch nah dem Tod.
Das ungekürzte Essay finden Sie im Programmheft der Produktion