Pjotr I. Tschaikowskys „Eugen Onegin“ als autobiografisch komponierter Seelenspiegel
Man komponiert immer wieder sich selbst,
soll Richard Strauss einmal gesagt haben – eine Theorie, die fast genauso gut auf Pjotr I. Tschaikowskys Eugen Onegin anzuwenden ist wie auf Strauss’ Intermezzo. Zugegeben: Tschaikowsky proträtiert in seinen „Lyrischen Szenen“ keinen autobiografisch geprägten Ehestreit à la Strauss, jedoch findet er ein poetisches Äquivalent: Er parallelisiert einen ureigenen privaten Briefmoment. Als er in den von seinen Biografen gerne als „Schicksalsjahr“ betitelten Monaten 1877 in seine Vertonung von Puschkins Versroman versunken war, erhielt der Komponist von einer ehemaligen Schülerin, Antonia I. Miljukowa, in unheimlicher Analogie zum fiktiven Onegin einen Liebesbrief. Ungeachtet der Konsequenz, die ein solcher Besuch zur damaligen Zeit nach sich zog, ließ sich Tschaikowsky auf ein Tête-à-Tête mit dem Mädchen ein – angeblich um ihr zu erklären, dass er „ihrer Liebe nur Dankbarkeit und Sympathie entgegenbringen könne“ – und sah sich anschließend gezwungen, die Ungeliebte zu heiraten. Doch so unvermittelt, wie es scheint, hatte die Idee einer Vermählung Tschaikowsky nicht heimgesucht. Bereits 1876 berichtete der Komponist seinem Bruder Modest von dem „festen Entschluss, in den Stand der Ehe zu treten, mit wem es auch sei“ – wie Modest vermutete, um „seine Seele von dem moralischen Leiden, welches ihn die letzten Jahre hindurch so gequält hatte, zu retten.“ Und mit diesem „moralischen Leiden“ sind wir nun beim Kernproblem der Tschaikowsky’schen Biografie: bei seiner unterdrückten Homosexualität, die ihn nicht nur für drei Monate in eine ungeliebte Ehe und damit fast in den Wahnsinn trieb, sondern deren Begleiterscheinungen in Form von ausgeprägter seelischer Labilität, Depression und Angst ihn auch zeit seines Lebens begleiteten.
Um der eigenen Zerrissenheit Herr zu werden,
stürzte sich Tschaikowsky von Anfang an ins Komponieren: „Nur die Arbeit rettet mich.“ Die Musik wurde für ihn zu einer Sprache, deren Ausdrucksfähigkeit die des Wortes bei Weitem übertraf; in ihr konnte er seine inneren Vorgänge, Sorgen und Seelenqualen verarbeiten. Nimmt man sich unter diesen Voraussetzungen Richard Strauss’ Äußerung noch einmal vor, gewinnt sie an Umfang: Nicht nur, dass Tschaikowsky in seinen „Lyrischen Szenen“ eine reale Situation zum Teil seiner Handlung kürt, er lässt in ihnen auch alles einfließen, was ihm dank seiner Sensibilität an Beobachtungskraft für das Innenleben anderer gegeben war. Eugen Onegin wurde Tschaikowskys erfolgreichst Oper – vor allem aber wurde es seine psychologisch differenzierteste Erzählung.
Dramatik der Seelenzustände
Die Entscheidung des Komponisten, „auf Effekte zu pfeifen“ und sich „allgemeinmenschlichen Empfindungen“ zuzuwenden, hatte dabei eine signifikante Folge: Anstelle äußerer Ereignisse erhob Tschaikowsky die inneren Gefühle und Konflikte seiner Protagonisten zum Motor der Opernhandlung. Diese – um mit Theo Adams Worten zu sprechen – „Dramatik der Seelenzustände“ zieht ihre Kraft aus der Psychologie Onegins und Tatjanas, vor allem aber aus der Ungleichzeitigkeit ihrer emotionalen Entwicklung. Kein Krieg, keine familiäre Fehde und keine unüberbrückbare Distanz trennen das Liebespaar in dieser Oper. Es ist allein die Asynchronität ihres Seelenlebens, die Onegin und Tatjana ihre Chance auf ein gemeinsames Glück verpassen lassen. Eindrücklich veranschaulicht wird dieses schicksalhafte ›Aneinandervorbeilaufen‹ in der Musik: Sie zeichnet, der zeitlichen Zweiteiligkeit der Oper folgend, je ein divergierendes Bild der Protagonisten zu Beginn und am Ende der Handlung. Damit wird den ‚jungen‘ Figuren der ersten beiden Akte ein verändertes Pendant im dritten Akt entgegengesetzt, resultierend aus dem Puschkin’schen Zeitsprung von acht Jahren.
Die ersten Töne des Vorspiels ziehen den Zuhörer zunächst in das Innenleben der jugendlichen Tatjana. Es ist ihre Mädchen-Sequenz, die nicht nur die Introduktion bestimmt, sondern auch den ganzen folgenden Akt durchwebt. Durch ihre chromatisch fallende Melodielinie evoziert sie automatisch die richtige semantische Besetzung: ‚Tatjanas Sequenz‘ steht für ihre Träume, ihre Liebessehnsucht und Schwärmerei.
In der Briefszene erfährt sie eine sinnfällige Ergänzung: Neben anderen Wendungen wird hier das – um Jürgen Schläders Terminologie zu folgen – berühmte ›Liebesthema‹ eingeführt, zu dem Tatjana Onegin ihre Gefühle gesteht: „Und wär’s mein Untergang …“ Als weiteres Motiv, das im Verlauf der Oper an zusätzlicher Gewichtung gewinnt, etabliert sich Tatjanas ‚Schutzgeistmotiv‘.
Im Schreiben innehaltend, stellt sie zu dieser Phrase die Frage nach Onegins Bedeutung für ihr eigenes Leben: Wird er ihr „Schutzgeist“ sein oder ihr „listiger Verführer“? Ohne einer strengen, konventionellen Arienform zu folgen, verwebt Tschaikowsky diese unterschiedlichen Motive zu einer komplexen Szene und beschreibt dadurch den realen Vorgang des Schreibens, aber eben auch das emotionale Zögern, die Unfähigkeit zu schweigen und – das ist das Wichtigste – die individuelle Emotionalität Tatjanas. Ganz anders verfährt er dagegen bei seinem Titelhelden. Onegin wird schon bei Puschkin als „überflüssiger Mensch“ gezeichnet, der – typisch für das Russland der damaligen Zeit – innerhalb des gegebenen politischen wie gesellschaftlichen Rahmens keine sinnvolle Befriedigung findet und sich deshalb in Langeweile, Zynismus und innerer Stagnation ergeht. Es ist eine von emotionaler Reserve geprägte Haltung, die Tschaikowsky folgerichtig musikalisch ausspart: Onegin erhält im ersten Teil der Oper – im Gegensatz zu Tatjana – keine eigene klangliche Charakterisierung. Seine musikalische Zeichnung findet indirekt statt, über die Darstellung des dramatisch bewegten Innenlebens von Tatjana und Lenski. Schon bei seinem ersten Auftritt bewegt sich Onegin demnach melodisch und harmonisch haltlos: Seine Gesangsphrasen modulieren im Gespräch mit Tatjana ohne Ziel und stabile tonale Basis. Im Gegensatz zu seiner Konversationspartnerin und ihrem klaren, auf a-Moll ausgerichteten harmonischen Fundament reiht Onegin sprunghaft einen Gedanken an den anderen. Und ähnlich unbedacht präsentiert er sich auch in seiner Absage an Tatjana im dritten Bild: Ohne auch nur einmal seine kategorische Ablehnung der Liebe zu hinterfragen, ohne auch nur einmal auf den Inhalt von Tatjanas Liebesbrief einzugehen – sei es im Inhalt oder in der Musik –, spult er ein scheinbar bewährtes Muster der Zurückweisung ab. Als Zeichen für diese statische wie egozentrische Selbstbespiegelung fällt Tschaikowsky in das etablierte Kompositionsschema der periodischen Arie zurück. Damit stellt er dem farbenreichen Innenleben Tatjanas, das diese in ihrer Briefszene präsentiert, eine starre Emotionalität Onegins entgegen, die an Erprobtem festhält und keine innerseelischen Regungen zulässt.
„Von allem, was meinem Herzen nahe war, riss ich mich los.“, resümiert Onegin am Ende bei Puschkin, „Ein Fremdling allen, durch nichts gebunden, dachte ich: Freiheit und Ruhe sind ein Ersatz fürs Glück. Mein Gott! Wie habe ich mich geirrt, wie bin ich dafür bestraft worden!“ Als Onegin acht Jahre nach ihrer Namenstagsfeier wieder auf Tatjana trifft, ist er ein anderer geworden.
Die Ereignisse haben seine zynische Schale aufgebrochen; erst jetzt erkennt er, welch hohes Gut ihm Tatjana einst dargeboten hat. Tschaikowsky wählt als Symbol dieser Entwicklung ein so simples wie eindrückliches Bild: Onegin singt seine Liebeserkenntnis im dritten Akt exakt auf Tatjanas ›Liebesthema‹ aus ihrer Briefszene. Er ist also bei ihrer Kraft zur Emotionalität angekommen. Doch fatalerweise hat nicht nur Onegin sich weiterentwickelt: Aus Tatjana Larina ist eine Fürstin Gremin geworden, die sich nicht länger durch Schwärmerei und Träume charakterisiert. Nur einmal erklingt im dritten Akt noch ‚Tatjanas Sequenz‘: wenn sie sich kurz vor ihrer Zurückweisung Onegins an das „Mädchen von damals“ erinnert. Der Rest ist durch eine neue Musikalität bestimmt: Tatjana erhält eine oft als ‚Fürstin- Motiv‘ bezeichnete Wendung, die sich aus dem Tonvorrat des ‚Schutzgeistmotivs‘ schöpft. Damit wird sie musikalisch Fürst Gremin zugeordnet, dessen gesamte Arie auf der Umkehrung besagten ‚Schutzgeistmotivs basiert. Was Onegin nicht sein konnte – Tatjanas Schutzraum – wurde in den vergangenen Jahren Gremin. Seine Bass-Arie ist die einzige, konventionell dreiteilige A-B-A-Nummer der gesamten Oper – ein Hinweis auf die Statik und, ja, Langeweile Gremins bzw. die tradierte Gesellschaftsordnung, für die er steht, aber eben auch ein Indiz der Ruhe, die er Tatjana geben kann. Indem sie sich musikalisch nun an ihren Ehemann anlehnt, wird die Distanz zu Onegin offensichtlich: Wo er angekommen ist – bei der Emotionalität der jungen Tatjana – steht sie selbst nicht mehr.
„Tatjana Larina“ anstatt „Eugen Onegin“?
Oft wird angesichts der Intensität, mit der Tschaikowsky sein musikalisch-thematisches Gefüge auf Tatjana konzentriert, spekuliert, ob der Titel der Oper nicht eher „Tatjana Larina“ anstatt „Eugen Onegin“ heißen müsste. Eine Theorie, gegen die sich der Musikwissenschaftler B. W. Assafjew vehement ausspricht: „Der Tod Lenskis, die von Tatjana erfüllte Pflicht, alles das dient nur der Aufzeigung eines höheren ideellen Konflikts: Onegin, dem Kult der Ironie verfallen und darin die Überwindung der Romantik empfindend, geht selbstsüchtig an einem lebendigen Gefühl vorbei und dies wird zum Drama seines Lebens, damit aber auch zum eigentlichen Kern der ‚Lyrischen Szenen einer vergehenden Jugend‘.“ Tschaikowskys Absicht ist es nicht, Tatjana als Hauptperson an die Stelle Onegins treten zu lassen. Vielmehr soll an ihrem erinnerungs- und leitmotivischen Gefüge Onegins Reifeprozess von einer inneren und damit auch musikalischen Leere zur emotionalen Qualität einer jungen Tatjana gespiegelt werden. Und damit ist auch nicht ein äußeres Ereignis Ziel und Höhepunkt der Handlung, sondern – wie Jürgen Schläder ausführt – „das tragische Ende eines Menschen, der nach langen und ausschweifend beschrittenen Irrwegen den endlich erblickten rechten Pfad durch sich selbst verstellt sieht.“ Tschaikowskys Fokus auf verborgene Vorgänge verlangt auch vom Publikum eine neue Art der Aufmerksamkeit: Anstatt eine äußerlich erzählte Geschichte nachzuvollziehen, soll der Zuhörer in die Figuren und damit auch in sich selbst hineinhören – ähnlich wie Tschaikowsky stets nach innen lebte und versuchte, dieses Innen zu begreifen.
Valeska Stern