Was ist schon Wahrheit?
Gedanken Omer Meir Wellber zum Schluss von Don Giovanni

Omer Meir Wellber © Walter Garosi
Schon in meiner Kindheit hat Don Giovanni auf mich einen ausgesprochen düsteren, tragischen Eindruck gemacht. Keine andere Oper, und sei sie noch so grausam, hat in mir diese tiefe Furcht ausgelöst, die bereits die ersten Takte der Ouvertüre in mir hervorgerufen haben und die seither für mich mit diesem Werk verbunden war. Hinzu kam noch ein unauslöschliches Bild, das der Film Amadeus in mir hinterlassen hat: Der kranke und scheinbar verfluchte Mozart, der vor einem fast leeren Saal in Wien die Todesszene des „Don Giovanni“ dirigiert. Dann fällt der Vorhang, schwacher Applaus – die Tragödie eines Komponisten, der schon nicht mehr wirklich unter den Lebenden weilte. Bis heute ist dieses Bild für mich der Ausdruck des „Don Giovanni“.
Heute, Jahre später und nach intensiver Auseinandersetzung mit den Da-Ponte-Opern und dem Künstlerduo Mozart und Da Ponte, führt mich dieser Eindruck zu der entscheidenden Frage für jede Neuinszenierung des Don Giovanni: Wie lassen wir die Oper enden? Für die Prager Uraufführung 1787 komponierte Mozart nach Don Giovannis Tod in der „Scena ultima“ den sogenannten „moralischen Schluss“, in dem Don Giovannis Widersacher seinen Tod kommentieren und über ihre Zukunftspläne Auskunft geben. Nur ein halbes Jahr später überarbeiteten Mozart und Da Ponte ihre Oper für Wien, unter anderem mit einer stark verkürzten Moralszene, die für folgende Aufführungen vermutlich sogar komplett weggelassen wurde, sodass das Stück mit Don Giovannis Höllenfahrt endete.
Es gibt sowohl für die eine als auch die andere Fassung gewichtige Argumente. Einmal sind das die „historischen“ Fakten, die für die Prager Version sprechen: Mit dem „lieto ne“, also dem glücklichen Ausgang, erfüllten Mozart und Da Ponte die Konventionen der Opera buffa im 18. Jahrhundert. Außerdem bleiben nach Don Giovannis Tod natürlich dramaturgische Fragen offen: Wie reagieren die Zurückbleibenden? Was geschieht mit ihnen? Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass Mozart einige Änderungen für Wien nicht aus künstlerischer Überzeugung, sondern als Zugeständnisse an die Sängerbesetzung und das Publikum vornahm. Doch hätte er aus diesen Gründen ausgerechnet die entscheidende Schlussszene gestrichen? In den Textbüchern, die dem Wiener Publikum verkauft wurden, war das moralische Ende nicht enthalten. Dort hieß es in einer Regieanweisung: „Das Feuer wird größer, als es Don Giovanni verschlingt. In diesem Moment erscheinen alle anderen. Sie schreien und fliehen. Der Vorhang fällt.“ Ist das nicht wunderbar surreal und modern? Vielleicht war es dieses Ende, das den Kaiser zu dem berühmten kolportierten Ausruf brachte: „Die Oper ist göttlich, vielleicht sogar noch schöner als der Figaro, aber sie ist keine Kost für die Zähne meiner Wiener.“
Eine Oper, zwei Fassungen
Die musikhistorische Aufarbeitung dieser Quellen möchte ich an dieser Stelle den Musikwissenschaftlern überlassen. Für mich gibt es nicht die eine gültige Version, sondern zwei gleichberechtigte Fassungen. Die Entscheidung für die eine und gegen die andere sollte eine künstlerische sein und der jeweiligen Interpretation des Regisseurs und des Dirigenten entsprechen. In der Kunst gibt es keine absolute Wahrheit. Und wenn wir uns für eine Fassung des Don Giovanni entscheiden, dann nicht, weil wir zu wissen meinen, wie sie 1787 oder 1788 geklungen hat oder weil ich überzeugt bin, dass dieses oder jenes der einzig richtige Weg ist, dieses Stück zu spielen, sondern weil es für uns heute die interessanteste Variante ist. Schauen wir also in die Partitur. Die Art, wie Mozart und Da Ponte die Ouvertüre gestaltet haben, ist für mich ein Schlüssel für das Verständnis dieses Dramma giocoso. Anders als bei Così fan tutte und Le nozze di Figaro führt Mozart bei Don Giovanni in der Ouvertüre bereits wesentliche musikalische Passagen und Motive ein, die später in der Oper wieder aufgenommen werden. Das Entscheidende dabei ist: Mozart stellt die Musik von Don Giovannis Todesszene an den Anfang und verurteilt ihn damit von der ersten Minute an zum toten Mann. Derartig den Schluss vorweg zu nehmen und den Helden in den ersten Takten zum Anti-Helden zu erklären, damit ist Mozart seiner Zeit voraus; das ist Nietzsche, Freud, Wagner, Picasso und Hitchcock zusammen in nur einem Takt!
Sehen wir näher hin, bemerken wir, dass Mozart mit den einleitenden Moll-Akkorden zudem eine Brücke schlägt vom Beginn der Ouvertüre in den berühmten ersten Takten zum Ende beim Erscheinen des ermordeten Commendatore und zum Tode Don Giovannis. Die Wirkung dieser wenigen Moll-Takte innerhalb einer fast komplett in Dur gehaltenen Oper ist hier enorm. Mozart nutzt d-Moll, das er vier Jahre später zur Tonart seines Requiems bestimmte und das als seine tragische, seine Todes-Tonart gilt. Sie führt uns direkt ins Herz der Oper, zu Don Giovanni, dem Sünder. Don Giovanni ist der Motor des Stückes. Er ist derjenige, der die Handlung ins Rollen bringt, um den die Figuren kreisen, der sie in seinem Bann hält und sie – scheinbar – kontrolliert. Anders als in Le nozze di Figaro gibt es hier keinen Platz für Vergebung und Versöhnung. Themen wie Treue, Menschlichkeit, Würde, denen wir in Così fan tutte und Le nozze di Figaro begegnen, prallen hier alle an der zerstörerischen Gewalt von Don Giovanni ab. Paradoxerweise ist gerade jene Macht, jene Figur, die jegliche Beziehung zerstören will, diejenige, die alle Figuren erst zusammenführt – anders als in Così fan tutte und Figaro, in denen sich die Charaktere bereits im Vorfeld kannten. Mit seinem anti-konformistischen Charakter ist Don Giovanni das Bindeglied des Stückes.
Die Faszination der Sünde
Don Giovanni übt auf die Menschen, die seinen Weg kreuzen, eine unwiderstehliche Faszination aus – die Faszination des Sündigen, der auch wir uns nicht entziehen können. Wir alle haben einen persönlichen Bezug zur Sünde: Manche von uns hassen sie, andere lieben sie, manche lieben die Sünde anderer und wieder andere lieben es, über die Sünden anderer Menschen zu urteilen. Don Giovanni ist derjenige, den alle fürchten oder hassen, aber heimlich auch bewundern. Seinen Tod überlebt in der Oper in gewisser Weise keine der Figuren. Sie haben ihren Antrieb, ihren Daseinssinn verloren. „Senza alcun ordine, la danza sia“, „Ohne jegliche Ordnung sei der Tanz“, sagt Don Giovanni. Er ist derjenige, der den Tanz geleitet hat. Und wenn er stirbt, stoppt der Tanz, und zurück bleibt das Chaos, das Nichts. Diese musikalische Klammer und die inhaltliche Fokussierung auf Giovanni sprechen aus meiner Sicht für die Version, die nach dem Tode Don Giovannis das Stück enden lässt. Ich habe oben gefragt, ob es eine Wahrheit gibt. Und Mozart und Da Ponte spielen mit genau dieser Frage in Don Giovanni: Don Giovanni modifiziert seine eigene Wahrheit mit jedem Takt und erfindet unterschiedliche Wahrheiten für die Menschen, denen er begegnet. Das ist wichtig: Er belügt sie nicht, er schafft verschiedene Wahrheiten – das ist für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Lebensstil fortzusetzen. Die einzige Person, die Don Giovanni vielleicht wirklich erkennt, ist Donna Elvira. In der Arie „Mi tradi qell’alma ingrata“, die Mozart und Da Ponte für die Wiener Fassung ergänzten, nimmt sie sein Schicksal vorweg: „Numi! In quai misfatti orribili, tremendi, è avolto il sciagurato! Ah, no, non puote tardar l’ira del cielo!“ – „Ihr Götter! In welche grauenvollen Taten ist der Elende verstrickt! Den Zorn des Himmels wird er nicht abwenden können!“
Don Giovanni bleibt ein Mysterium – und auch für mich wird diese Oper immer ein gewisses Geheimnis wahren. Die Oper war nach der Prager Uraufführung nicht abgeschlossen für Mozart, also versuchte er sie zu verbessern. Für mich bedeutet das, dass wir durch die beiden Fassungen die außergewöhnliche Möglichkeit haben, einen kreativen Entwicklungsprozess nachvollziehen zu können, auf der Suche nach einer für Mozart vielleicht besseren Lösung. Auch deswegen ist es für mich so spannend, nicht bei der Prager Fassung stehen zu bleiben, sondern zu schauen: Was kam danach?