Regiekonzept
Die Magie der Abstraktion
Regisseur Axel Köhler im Gespräch
Georges Bizets Oper »Carmen« ist mit vielen Erwartungen und Klischees beladen. Wie gehen Sie damit um?
Axel Köhler Mein Ansatz war ein Spagat zwischen Klischeevermeidung und ganz bewusstem Spiel mit dem Klischee, um es unter Umständen wiederum zu brechen. Die größte Gefahr an diesem Stück ist aus meiner Sicht, in die Gefälligkeitsfalle zu tappen. Dabei ist »Carmen« ein äußerst brisanter Stoff. Im Text und den Regieanweisungen geht es um Blut, Gewalt, Leidenschaft in allen Facetten. Das Stück ist überhaupt nicht niedlich oder beschaulich, sondern ziemlich brachial. Das habe ich versucht herauszuarbeiten.

Carmen selbst erscheint in unterschiedlichen Facetten. Sie ist Zigeunerin, Zigarettenarbeiterin, Schmugglerin, Wahrsagerin, Sängerin, Tänzerin, leidenschaftlich Liebende, aber auch Verachtende. Wer ist Carmen für Sie?
Axel Köhler Carmen ist für mich eine genauso geheimnisumwobene Frau, wie es im Grunde jede Frau in unterschiedlichem Maße ist. In Carmen sind alle Eigenschaften, die eine Frau besitzen kann, vereint und zugespitzt. Sie ist besonders leidenschaftlich, kann besonders verachten, lebt alle emotionalen Situationen bis zum Eichstrich aus und daher sind die Fallhöhen ihres Charakters so groß, wie man sie im realen Leben wahrscheinlich kaum findet. Ich bin der Meinung, dass es keiner Inszenierung gelingen wird und es vielleicht auch keine anstreben sollte, das Wesen dieser Frau erschöpfend zeigen zu wollen. Als Regisseur muss ich sehen, wie ich mit meiner subjektiven Perspektive auf diese Frauenfigur umgehe in Interaktion mit den Sängern, die ihre Sicht ebenfalls einbringen. Daraus entsteht dieses interessante Wesen, das wiederum Assoziationsfläche für das Publikum lassen muss.

Der Gegenpol zu Carmen ist Micaëla.
Axel Köhler Micaëla ist eine würdige Gegenspielerin, sie ist nur anders sozialisiert. Carmen ist in ihr Milieu eingepasst, in dem andere ethische und Verhaltensnormen herrschen als in Micaëlas Umfeld. Im Katholizismus zum Beispiel gibt es zahlreiche Regeln, in denen es heißt: »Das macht man nicht, das tut man nicht, das sagt man nicht«, und Kinder, die das in der Prägezeit oft genug erfahren, lernen diese Regeln zu beachten. Bei Carmen gibt es genau das nicht. Dort tut, sagt und bekommt man alles, was man will. Es fehlt die Begrenzung. Das unterscheidet die beiden Frauen. Wäre Micaëla in einer anderen Sozialisierung aufgewachsen, wäre sie unter Umständen genauso eine Carmen.
Die Gegensätzlichkeit spiegelt sich auch bei den Männern mit Don José auf der einen und Escamillo auf der anderen Seite. Was reizt Carmen an den beiden?
Axel Köhler An José interessiert sie, dass er nicht sofort ihren Reizen verfällt und ihre weiblichen Waffen anscheinend versagen. Das kann sie nicht zulassen und so geht es ihr im ersten Moment nicht um Liebe, sondern darum, ihn zu brechen. Das ist sie sich selbst schuldig. Dass von ihrer Seite dann etwas hinzukommt, das man Gefühl nennen könnte, steht auf einem anderen Blatt. Durch Escamillo fühlt sie sich aufgewertet, da er in einer sozial höheren Schicht steht und ihr etwas bietet, das sie noch nie hatte, nämlich ein öffentliches Liebesbekenntnis. Das macht sie trunken. Was nicht bedeutet, dass es ewig so bleiben würde. Was man hat und als Glück empfindet, ist irgendwann Standard und unter Umständen dadurch wieder wertlos. Aber im Moment ist sie ihm verfallen. Escamillo ist der einzige Mann, zu dem Carmen aufschaut. Insofern hat Carmens Beziehung zu beiden Männern in erster Linie etwas mit ihrem eigenen Charakter zu tun, nicht mit Hingabe an die Männer.
Wenn man »Carmen« auf die Bühne bringt, stellt sich schnell die Frage nach der Fassung: Die ursprüngliche Dialogfassung oder doch lieber die Rezitativ-Fassung?
Axel Köhler Das Gefährliche für mich sind die langen Dialoge, die gewissermaßen selbst zu Musik werden müssen, damit keine Spannungslöcher entstehen. Die Musik, die uns verführt, fasziniert und elektrisiert, soll nie abreißen. Die Rezitative sind, wenn auch nicht von Bizet selbst, zum Teil sehr szenisch und theatral komponiert. Jeder Ton hat eine Bedeutung. Und da Bizet selbst schon melodramatisch und rezitativisch gearbeitet hat, haben wir uns für die Mischfassung entschieden, in der alle notwendigen Informationen so knapp wie möglich an das Publikum gegeben werden. (…)
Das Stück fordert verschiedene Spielorte: an der Fabrik, in der Kneipe, im Gebirge, vor der Stierkampfarena. Wie konkret möchten Sie dabei werden?
Axel Köhler Die Formel von Arne Walther und mir ist: So konkret wie nötig und so abstrakt wie möglich, damit man auch im Bühnenbild zeigt, dass wir Theater spielen und keinen Film drehen, keinen Naturalismus abbilden. Wir fordern dem Publikum Fantasie ab, indem wir eine Folie vorlegen, die dies oder das darstellen könnte. Das Publikum soll sich dann mit uns in eine Situation hineinbegeben, ohne fertige Bilder serviert zu bekommen. Es soll eine Verbindung von Sinnlichkeit und der Magie der Abstraktion entstehen.
Immer wieder formiert sich der Raum neu, entsteht ein Außen und ein Innen. Was ist dieser Raum? Stierkampfarena? Opferstätte? Lusttempel? Vom Schweiß durchsetzter Arbeitsraum? Ein Ort der Verheißung?
Axel Köhler All das kann jeder, der in der Vorstellung sitzt, selbst entscheiden. Was wir bauen wollen, ist Atmosphäre, die der Musik kongruent ist, dem Text entgegenkommt und eine Fläche für all diese Assoziationen bietet.
Auch die Kostüme von Henrike Bromber lassen Raum für Assoziationen …
Axel Köhler Wir wollten uns auch dabei nicht auf eine bestimmte Zeit festlegen. Die Soldaten wirken zeitlos gefährlich, die Frauen eher verschwitzt und gerade dadurch sexy. Hier werden also vielmehr die animalischen, archaischen Elemente bedient statt des schönen Klischees. Bildlich konkret wird es allein am Ende beim Einzug der Cuadrillas in die Arena, der auch im heutigen Spanien noch wie ein inszeniertes und durchchoreografiertes Kostümfest aussieht. Hier schließt sich eine große Klammer, denn Gebaren und Kleidung der Toreros sehen im 21. Jahrhundert genauso aus wie zur Entstehungs- und Handlungszeit der Oper.

Das Gespräch führte Nora Schmid. Das vollständige Interview ist im Programmheft zu »Carmen« abgedruckt.