Regiekonzept
»Apokalypse einer männlichen Welt«
Regisseur Willy Decker zur Inszenierungskonzeption
Der »Ring« hatte begonnen in der ungestörten Ruhe von Erdas Träumen, der unzerstörten Harmonie einer urweiblichen Ewigkeit. Das Männliche ist in dieses jungfräuliche Paradies eingedrungen und hat es zerstört, indem Alberich den Rheintöchtern ihr Lebenszentrum, das Rheingold, entrissen hat. Aus dieser Ur-Sünde der Vergewaltigung des Weiblichen hat sich eine Wirklichkeit entfaltet, die zunehmend vom Männlichen dominiert und beherrscht wird. Am Ende der »Walküre« hat Wotan Brünnhilde als die Verkörperung des weiblichen Widerstandes gegen männliches Wüten in einen Feuerring eingeschlossen und damit die Verstoßung und Verdrängung weiblichen Einflusses im »Ring« als deutlichen Bruch vollzogen. »Siegfried« ist dann konsequenterweise ein reines Männerstück. Die Frauen scheinen endgültig aus dem »Ring« verbannt. Nur Erda wird aus ihrem Schlaf heraufgezerrt. Sie ist lediglich noch ein verlöschender Abglanz ehemaliger Größe und ewiger Macht. Wirr, verstört, von »Männertaten umdämmert«, schickt Wotan sie endgültig hinab zu ewigem Schlaf. Siegfrieds Befreiung Brünnhildes aus ihrem Flammengefängnis ist nur scheinbar eine Rehabilitierung des Weiblichen. Die Wotan-Tochter gibt all ihr Wissen, ihre göttliche Freiheit, ihre weibliche Macht an Siegfried ab und nimmt die konventionelle Rolle der Frau an, indem sie sich dem »teuren Helden« ganz unterordnet. Nur er zieht in die Welt, nur er vollbringt die Taten, die Brünnhilde sich vielleicht gewünscht hätte. Schon im Vorspiel der »Götterdämmerung« setzt sich mit den drei Nornen die Entmachtung und Verbannung weiblichen Wissens und Wirkens in seiner ganzen Tragweite fort. Auch diese Seherinnen können den Knoten männlicher Taten nicht mehr entwirren und kehren auf ewig zurück, hinab zu ihrer Mutter Erda, in tiefer und endgültiger Resignation. Eine aggressive männliche Welt überlassen sie damit sich selbst. Ihr ewiges Wissen geht zu Ende, »der Welt melden Weise nichts mehr«.
Die unabwendbare Katastrophe
Die Sorge der Nornen im Vorspiel kann als tragische Umkehrung der Sorglosigkeit der Rheintöchter aus dem »Rheingold« angesehen werden. Das Reißen des Seiles ist die Zerstörung ihrer Verbindung zum Urgrund und gleichzeitig eine Vorwegnahme von Siegfrieds Gedächtnisverlust. Hagen zerschneidet Siegfrieds Verbindung zu Brünnhilde und damit dessen Verbindung zum Göttlichen. Wotans Welt geht nun zu Ende – ein männlich dominierter Kosmos endet in der Katastrophe der Selbstzerstörung. Götterdämmerung heißt auch Dämmerung des Männlichen, Bankrott einer männlichen Welt. Wotans Wille, seine Motivation und Sinngebung, ist nur noch partiell in Brünnhilde und Siegfried enthalten, als Erinnerung, als Unbewusstes. Das Paar taucht in eine »gewöhnliche« Menschen- oder Alltagswelt hinein, in die das Göttliche mit seinem Wissen, nur noch als Traum oder verlorene Erinnerung hineinragt. Mit dem Eintritt in die Gibichungenhalle betreten wir zum zweiten Mal im »Ring« solch eine profane Alltagsebene.
Die Lieblosen zerstören die Welt – die Liebende könnten sie retten
Mit Hagen tritt eine Figur hinzu, die im letzten »Ring«-Teil das negative Element noch einmal potenziert. Er ist der Sohn Alberichs, den dieser mit einer Menschenfrau gezeugt hat. Er soll den Willen seines Vaters vollenden, so wie dies von Wotan auch einmal für Siegmund, später für Brünnhilde und als Konsequenz daraus auch für Siegfried gedacht war. In einer alptraumhaften Szene tritt Alberich noch einmal auf, um seinen Sohn einzustimmen, ihn an die Treue gemahnend, die er als Sohn dem Vater gegenüber erweisen soll. Hagens Plan soll ihm schließlich selbst den Weg gänzlich freimachen. Er stoppt Siegfrieds und Brünnhildes Siegesfahrt und verführt Gunther zu einem Betrug, mit dem er ihn immer erpressen bzw. vernichten kann. Gutrune stößt er in ein scheinbares Glück, an dem sie zugrunde gehen muss. Das Böse in Hagen ist immer noch Auswirkung der Liebesverweigerung vom Anfang des »Rings«. Seine Machtgier ist die Sehnsucht nach Rache desjenigen, der zu kurz gekommen ist – der Bastard, der Unreine, der Unfrohe, der Ungeliebte. Dafür steht er selbst, aber auch sein Vater Alberich. Die Lieblosen zerstören die Welt, Liebende könnten sie retten. Brünnhilde findet am Schluss zu dieser allumfassenden, grenzenlosen, das eigene Ich überwindenden Liebe, deren tiefster Kern Selbstlosigkeit ist. Der schlimmste Augenblick ihres Daseins ist der Moment der Erkenntnis, dass sie Siegfried zu Unrecht an Hagen verraten hat. Auch sie konnte Hagens Intrige nicht durchschauen und stürzt in Verwirrung, in die Abgründe menschlicher Leidenschaften: »Wo ist nun mein Wissen gegen dies Wirrsal? Wo sind meine Runen gegen dies Rätsel?« Gutrunes Geständnis, Siegfried mit einem Vergessenstrank getäuscht zu haben, löst diese Rätsel auf. Der Schleier, der sie umgab, wird zerrissen und Brünnhilde findet zu einer radikalen Konsequenz von Sühne und Selbstopfer: »... mich musste der Reinste verraten, dass wissend würde ein Weib«. Sie hat schreckliche Situationen durchlebt. Doch sie hat daraus gelernt und kann für sich den Schluss ziehen: »Alles weiß ich, alles ward mir nun frei.« Am Ende hat das männliche Prinzip in seinem wahnwitzigen Streben nach Macht und Dominanz sich selbst zerstört und droht eine ganze Welt ins Nichts zu reißen. Doch Wagner kehrt zur Wellenbewegung des »Rheingold« zurück, zum ewigen Ausgleich von Wachstum und Vergehen, Aufstieg und Niedergang, von männlich und weiblich. Nur das Weibliche kann sich der drohenden Apokalypse entgegenwerfen und wird in der Abwärtsbewegung zu einer ausgleichenden und rettenden Kraft. So gibt am Ende Brünnhilde den Weg in die Zukunft frei. Erdas Traum kann neu beginnen.
Das ungekürzte Essay finden Sie im Programmheft der Produktion