Semper Geschichte/n

»Schwanensee«

Am 4. März 1877 erlebte das weltberühmte Ballett »Schwanensee« in Moskau am Bolschoi-Theater seine Uraufführung. Die Komposition stammte von Piotr I. Tschaikowsky, die Choreografie von dem heute weitestgehend vergessenen Tänzer und Choreografen Wenzel Reisinger. Obwohl die Choreografie von der Kritik unter anderem als »schwach und uninteressant« beschrieben wurde, war die Uraufführung nicht der Reinfall, als der er im Rahmen der Legendenbildung um dieses Meisterwerk beschrieben wurde. In der ersten Aufführungsserie gab es allein 41 Aufführungen an Stelle der üblichen 18 bei Neuproduktionen.

Aber als sicher gilt, dass diese erste Choreografie der Ausdeutung der Komposition und ihrem Innovationsgehalt nicht gerecht wurde. Das änderte sich mit der Neukreation der beiden Choreografen Marius Petipa und Lew Iwanow, die am 15. Januar 1895 am Mariinski-Theater in Sankt Petersburg – im Jahr nach dem Tod Tschaikowskys – herauskam, und bis heute als die maßgebliche Deutung gilt. Petipa und Iwanow nahmen nicht nur deutlich mehr Rücksicht auf die musikalische Struktur der Komposition, sie vollzogen auch die klare stilistische Gliederung der Bilder in jene die Gesellschaft darstellenden Akte 1 und 3 sowie die so genannten »weißen« Akte 2 und 4, die der romantisch-märchenhaften Welt der Schwäne vorbehalten sind. Vor allem die bildnerische und choreografische Erfindungskraft Lew Iwanows in diesen weißen Akten formte »Schwanensee« nicht nur zu einem Höhepunkt des klassischen Handlungsballetts, sondern hob den Tanz durch die Verbindung von Poesie und Abstraktion in neue zukunftweisende Sphären.

Bis »Schwanensee« nach Europa und in Dresden zur Erstaufführung kommen sollte, mussten jedoch noch einige Jahre vergehen. Eine erste Tourneeproduktion des Mariinski Theaters im Jahr 1908 zeigte anfangs nur den 2. Akt, 1911 brachte Sergei Diaghilew mit seinen Ballets Russes in London eine zweiaktige Version heraus. Nach der Oktoberrevolution emigrierte der Tänzer und Choreograf Nikolai Sergejew und brachte schließlich Petipas Fassung 1934 auf westliche Bühnen. 

Dresdner Erstaufführung

Die Dresdner Erstaufführung schließlich fand am 17. Juni 1959 in der Choreografie von Tom Schilling auf der Freilichtbühne »Junge Garde« im Großen Garten statt. Tom Schilling selbst choreografierte die Akte 1, 3 und 4. Der 2. Akt und »Der schwarze Schwan« wurden in der Fassung des Bolschoi-Theaters von Asaf Messerer übernommen. Es tanzte das Staatsopernballett Dresden – und an insgesamt drei Abenden sahen 15.000 begeisterte Zuschauer*innen mit Edith Löffler als Odette, Ursula Heinig und Anita Helbig als Odile sowie Karl-Heinz Rosemann und Jack Theis als Rotbart herausragende Solist*innen der damaligen Zeit. Was uns der Besetzungszettel noch verrät und in den Kritiken eifrig diskutiert wurde: Die Musik von Tschaikowsky, eingespielt von der Staatskapelle Dresden, kam vom Tonband, oder, wie abfällig bemerkt wurde, aus der »Konserve«.

Besetzungszettel der Erstaufführung »Schwanensee« am 17. Juni 1959Besetzungszettel der Erstaufführung »Schwanensee« am 17. Juni 1959

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Zur Vorbereitung dieser für damalige Verhältnisse besonders herausfordernden Produktion reiste das Kreativteam bereits 1956 eigens nach Russland und besucht in Moskau die Vorstellungen von »Schwanensee« im Bolschoi-Theater – es tanzte Maja Plissetzkaja – , und im Stanislawski-Theater sowie in Leningrad im Kirow-Theater.

Werner Hoerisch betont in seiner Erinnerung, dass in der russischen Tradition die Partien der Odette und Odile – anders als in Dresden – von einer Solistin getanzt wurden und, dies war ihm wichtig, dass sich alle Deutungen durchaus unterschieden. »Schwanensee«, wiewohl der große Klassiker, der »von der Sowjetunion aus friedlich die Welt eroberte«, sei kein Museumsstück sondern ein Werk, an dessen Deutung ständig gearbeitet werde …

Zum 18. Dezember 1959 wechselte die Produktion von Tom Schilling in das Große (Schauspiel-)Haus. Am 26. Januar 1977 erlebte der mehrteilige Ballettabend »Der Zauberladen« in der Choreografie von Vera Müller im Kulturpalast seine Premiere. Den Mittelteil bildete der 2. Akt aus »Schwanensee« in einer, wie es auf dem Programmzettel heißt, »Übertragung der Originalchoreografie von Marius Petipa / Lew Iwanow«. In der wiedereröffneten Semperoper fand schließlich am 6. Februar 1986 die zweite vollständige Neuproduktion in der Choreografie von Konstantin Russu statt.

Aaron S. Watkin brachte seine Neuproduktion nach Marius Petipa und Lew Iwanow am 21. November 2009 heraus. Der Choreograf und Ballettdirektor des Semperoper Ballett betrachtet seine Arbeiten als work in progress. Und im Laufe der Jahre hat er auch diese Choreografie immer wieder verändert, erneuert und angepasst. Weshalb ihm die Adaption seines »Schwanensee«, die er gerade für die Zeit der Pandemie erarbeitet, in erste Linie eine künstlerische Herausforderung ist. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Semper Geschichte erschien am 4. März 2021. Autor: Johann Casimir Eule (Chefdramaturg)