Semper Geschichte/n

»Orfeo – Orpheus – Orff«

Die Uraufführung von Carls Orffs »Orpheus« an den Sächsischen Staatstheatern am 4. Oktober 1940

Claudio Monteverdis 1607 uraufgeführtes Werk »L’Orfeo« wird oft als die erste Oper bezeichnet: als solche wird sie, als eine der wenigen Opern ihrer Zeit, noch immer regelmäßig gespielt. Trotzdem fand erst am 30. April 2023 die Erstaufführung des Werks an der Staatsoper Dresden statt.

Mit Monteverdis »L’Orfeo« wurde sich dennoch bereits ausführlich am Haus beschäftigt: Der deutsche Komponist Carl Orff bearbeitete das Stück bereits in den 1920er Jahren und am 4. Oktober 1940 wurde seine endgültige Fassung »Orpheus – L’Orfeo. Favola in musica« an den Sächsischen Staatstheatern laut Theaterzettel unter dem Titel »Orfeo« uraufgeführt. Es dirigierte der Generalmusikdirektor Karl Böhm, Regie führte der renommierte Heinz Arnold und das Bühnenbild stammte von Emil Preetorius, der als einer der bedeutendsten Bühnenbildner des frühen 20. Jahrhunderts gilt. Die Bühne zeigte eine von der Antike inspirierte Landschaft und Tempelgebäude, mit den Darstellenden in historisch anmutenden Toga-ähnlichen Gewändern. Die Aufführung fand als Doppelvorstellung mit der szenischen Erstaufführung von Orffs berühmtester, und bis heute meist gespielter Komposition »Carmina Burana« statt.

Historische Einordnung

Eine Uraufführung im Dresden der 1940er Jahre ist kritisch zu betrachten. Carl Orff, geboren am 10. Juli 1895 in München, war einer der wenigen Komponisten seiner Zeit, der Deutschland mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten nicht verließ, sondern in Deutschland weiter musikalisch wirkte. Seine genaue politische Positionierung ist nicht eindeutig nachzuvollziehen. Orff war nie Mitglied der NSDAP und bekleidete keine öffentlichen Positionen des Regimes. Dem Gedankengut des Nationalsozialismus scheint er ebenfalls nicht zugestimmt zu haben. Er agierte jedoch auch nie aktiv oder offen gegen das System, sondern blieb stets passiv. Textimmanent finden sich in Carl Orffs »Orpheus« keine offensichtlichen Bezüge zum Nationalsozialismus; seine Werke wurden jedoch im Rahmen politisch wichtiger Anlässe der Nationalsozialisten gespielt.

Entwicklung der Fassungen

Carl Orffs »Orpheus« wird oft als deutsche Fassung der Monteverdi-Oper bezeichnet, das ist jedoch ein Fehlschluss, da Monteverdis Libretto zwar von Dorothee Günther aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt, aber auch dramaturgisch erheblich bearbeitet wurde. Der ursprüngliche Plan war eine deutsche Version. Orff wollte in seiner ersten Fassung in den 1920er Jahren noch eine historisch getreue Rekreation des Werkes zur Aufführung bringen, unter Verwendung historischer Instrumente, was sich jedoch als schwierig erwies, da zu jener Zeit noch kein Bewusstsein für historische Aufführungspraxis gepflegt wurde. Die Uraufführung dieser ersten Fassung fand 1925 am Nationaltheater Mannheim statt. Die zweite Fassung sollte einen Kompromiss zwischen historischer und moderner Theaterpraxis herstellen. Erst die dritte Fassung, die 1939 fertiggestellt und 1940 uraufgeführt wurde, war schließlich seine Übertragung des Werkes in die »aktuelle« Zeit. Die Oper wurde musikalisch aktualisiert und auch strukturell verändert. Worin bestanden jedoch diese Aktualisierung und Übertragung des Werkes genau?

Strukturelle Veränderungen

Für Orffs Version der Oper wurde die Handlung auf einen Prolog und drei Akte gekürzt, auf eine Gesamtlänge von nur 60 Minuten gegenüber den ursprünglichen knapp 2 Stunden bei Monteverdi. Dafür wurden auch Handlungselemente und Figuren gestrichen oder verändert: anstatt, dass der Prolog von der Personifikation der Musik gesungen wird, wird von einem Sprecher eine der ältesten Fassungen des Orpheus-Mythos, welcher von dem Mönch Notker Teutonicus um das Jahr 1000 verfasst wurde, erzählt. Später spricht Orpheus bei dem Wächter der Toten vor und muss anders als bei Monteverdi nun nicht noch zu den Göttern der Unterwelt weiter, sondern bekommt die Geliebte schon hier für einen kurzen Moment zurück. Auch das Ende wurde verändert, beziehungsweise früher gesetzt: Die Oper endet, wenn Orpheus Eurydike für immer verliert, ohne dass er Resolution erfahren darf. Die Solist*innen wurden außerdem um fast die Hälfte reduziert: die Gottheiten der Unterwelt, Proserpina und Plutone wurden gestrichen, sowie auch die Musik, die Hoffnung, das Echo und der Gott Apollo. 

Musikalische Aktualisierungen

Die Aktualisierung der Musik hatte ästhetische, aber auch funktionale Gründe. Es erwies sich als schwierig, die besonderen Instrumente aus der Uraufführungszeit Monteverdis zu beschaffen und Musiker*innen zu finden, die mit diesen Instrumenten, der Notation der Partitur und dem Generalbassspiel vertraut waren. Entsprechend bot sich die musikalische Aktualisierung an: Orff strich viele der alten Instrumente, wie das Cembalo, die Orgel und die Gamben, und ersetzte sie durch ein für die Zeit modernes Orchester mit einer großen Bläser- und Streicherbesetzung. Nur Lauten behielt Orff als historisch anmutendes Instrument. Das Klangbild war also ein vollständig anderes gegenüber dem der späten Renaissance.

Änderungen des Librettos

Das ursprüngliche italienische Libretto von Alessandro Striggio wurde neben der Übersetzung von Dorothee Günther in die deutsche Sprache von ihr auch aktualisiert: Dies lag zum einen daran, dass Orff viel an der einfachen Verständlichkeit des Textes lag, und zum anderen, dass er einige inhaltliche Elemente als nicht mehr zeitgemäß empfand. So wurden beispielsweise Floskeln der Huldigung an den Fürsten gestrichen. Einige Phrasen wurden vom Chor an einzelne Sänger*innen übertragen, und einige Partien, wie die der Botin, welche die Nachricht vom Tod der Eurydike überbringt, wurden prägnanter formuliert. Der zentrale Konflikt um Orpheus und Eurydike steht im Zentrum des Stücks. 

Rezeption

Die Uraufführung wurde überwiegend positiv aufgenommen, besonders die musikalische und sprachliche Aktualisierung wurde sehr gut besprochen. »Es war (…) eine Aufführung von aufrüttelnder musikalischer Gewalt und ebenso erregender Innerlichkeit«, hieß es im »Dresdner Anzeiger«. Die »Deutsche Zeitung in den Niederlanden« lobte in ihrer Kritik die Emanzipation von der Historizität, die »Übersetzung eines alten Meisterwerkes in die Sprache unserer Zeit«, die »Befreiung des antiken Mythos’ aus barocker Verkleidung« und die »Wiederherstellung der unmittelbar zu uns sprechenden, zugleich einfachen und tiefsinnigen antiken Klarheit, der auch die textliche Neugestaltung dient«. Die Solist*innen der Eurydike und des Orpheus, Margarete Teschemacher und Arno Schellenberg wurden für ihre »edle Gesangskunst« ebenfalls gelobt. Als »lichtvolle Eurydike mit glockenhellem Ton« und als ein Orpheus mit »reicher stimmlicher Ausdruckskraft« wurden die beiden Darstellenden in der »Schlesischen Zeitung« beschrieben. Ganz besonders hervorgehoben wurde aber auch der Chor: »Ruhmreicher Dresdner Opernchor« titelte der »Dresdner Anzeiger«. Unterüberschriften wie »Gemeinschaftsdienst sichert den Erfolg«, »Stärkster Erfolg des Orff-Abends in der Staatsoper« oder auch »Dresdens Oper triumphiert« verweisen mit ihren teils kriegsrhetorischen Formulierungen allerdings sehr deutlich auf die Einordnung in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. So ist diese Aufführung nicht vollständig vom Kontext des Krieges und der NS-Zeit zu lösen, da Werke wie dieses unabhängig von ihrem Inhalt auf verschiedenen Ebenen instrumentalisiert werden konnten und wurden. 

»L’Orfeo« heute

Heute wird Orffs »Orpheus« seltener aufgeführt als seine deutlich bekanntere »Carmina Burana«. Dafür ist jedoch Monteverdis »L’Orfeo« wieder auf den Spielplänen zu finden, teilweise mit modernen und manchmal mit den speziellen Instrumenten aus Monteverdis Zeit. An der Semperoper wurde das Werk nun im April 2023 unter der musikalischen Leitung von Wolfgang Katschner, einem international führenden Spezialisten für Alte Musik, mit seinem Ensemble, der lautten compagney BERLIN, zur Aufführung gebracht. Der aktuelle Stand der historisch informierten Aufführungspraxis ermöglicht dabei, was 1920 noch nicht denkbar war: eine historische Rekreation oder zumindest eine starke Annäherung an die musikalische Klangerfahrung des frühen 17. Jahrhunderts. 

Die Semper Geschichte erschien am 15. Mai 2023. Autorin: Annabell Strobel (Mitarbeiterin Dramaturgie)