Semper Geschichte/n

»Die Vorhänge sind nach der Höhe aufgezogen worden; die Bühne ist verwandelt.«

Pünktlich zur Wiederaufnahme der Inszenierung »Die Meistersinger von Nürnberg« von Jens-Daniel Herzog von 2019 erhielt das Historische Archiv der Sächsischen Staatstheater vier große Kartons mit den Bühnenbildmodellen zu Wolfgang Wagners Inszenierung des gleichen Werkes an der Staatsoper Dresden.

Im Eröffnungsjahr 1985 bildete diese Neuproduktion an der wiederaufgebauten Semperoper, im großen Premierenreigen (von u.a. Carl Maria von Webers »Der Freischütz« und Richard Strauss’ »Der Rosenkavalier«) den Abschluss und setzte kulturpolitisch ein besonderes Ausrufezeichen. Schließlich kam damit eine »Westproduktion« in der Inszenierung und dem Bühnenbild vom Enkel Richard Wagners und dem Leiter der Bayreuther Festspiele an die Elbe. Die Musikalische Leitung lag in den Händen von Siegfried Kurz, die Besetzung war erlesen: Theo Adam als Hans Sachs, Rolf Tomaszewski als Veit Pogner, Hans-Joachim Ketelsen als Fritz Kothner, Klaus König als Walther von Stolzing, Peter Schreier als David, Ute Walther als Magdalene und (als einziger Gast aus dem Westen) Lucia Popp als Eva. Die Vorlage für die Inszenierung am Dresdner Opernhaus bildete Wolfgang Wagners Bayreuther Produktion von 1981 – und es war bereits Horst Seeger, der Vorgänger von Wiedereröffnungs-Intendant Gerd Schönfelder, der den Weg für diese Zusammenarbeit ebnete.

Welches Bild der »Meistersinger«, welche Vorstellung von Nürnberg transportierte Wolfgang Wagner in seinen Entwürfen? Aus der Perspektive der Aufführungstradition dieses Werkes vor allem auch in Bayreuth, seines Missbrauchs während des Nationalsozialismus und seiner skandalbehafteten Deutungen durch Wieland Wagner in der Nachkriegszeit ist dabei sowohl interessant, was gezeigt wird, als auch was nicht.

Um mit dem »nicht« zu beginnen: Wie auch viele Premierenkritiken aus DDR-Wahrnehmung wohlwollend konstatierten, finden wir keine Butzenscheiben-Romantik und Verkitschung vor. Gleichwohl, dies macht gleich der Erste Aufzug mit der Katharinenkirche als Spielort deutlich, haben wir es mit einer fast schon naturalistischen Umsetzung der für das mittelalterliche Nürnberg charakteristischen Architekturelemente wie dem roten Sandstein oder der vorherrschenden Gotik zu tun. Wolfgang Wagners »Meistersinger« spielen also in Nürnberg, und verorten sich konkret in der Historie.

Anders aber, als es Richard Wagner in seiner Regieanweisung formuliert: – »Die Bühne stellt das Innere der Katharinenkirche in schrägem Durchschnitt dar. Von dem Hauptschiff, welches links ab dem Hintergrunde zu sich ausdehnend anzunehmen ist, sind nur noch die letzten Reihen der Kirchenstuhlbänke sichtbar. Den Vordergrund nimmt der freie Raum vor dem Chor ein;« – blickt der Betrachter frontal auf die den Bühnenraum abschließende, fast fensterlose Rückwand des Mittelschiffs samt Orgelempore. Während sich also das Libretto bei aller Nürnberg-Romantik noch ein raffiniertes Spiel mit Blickachsen und sich in ahnende Weiten öffnendes Raumbild wünscht, geht es hier etwas banal frontal und begrenzt zu.

Das kann durchaus als eine Ansage an die Kritik und das Bayreuther Publikum verstanden werden. Lieferte die stark abstrahierte Regie und Bühnenbilddeutung der »Meistersinger« durch seinen Bruder Wieland Wagner in der Nachkriegszeit im so genannten Neu-Bayreuther-Stil doch für wahre Proteststürme und die unverhohlene Aufforderung, diese zu Gunsten eines realistischeren Nürnberg-Bildes zurückzunehmen. Was Wieland Wagner auch schrittweise machte, bis er schließlich demonstrativen Szenenapplaus erhielt, als zum ersten Mal wieder im Bild der Festwiese die gewünschte Stadtsilhouette Nürnbergs auftauchte. Für die 1985er Premieren-Kritiken in Dresden stellten allerdings eher die damals aktuellen »Meistersinger«-Inszenierungen von Harry Kupfer (Berlin) oder Joachim Herz (Leipzig) den Referenzrahmen dar. Mit dem Ergebnis, dass sich die Inszenierung von Wolfgang Wagner doch etwas arg brav auf eine reine Bebilderung des Geschehens beschränkte, ohne weiter greifende Deutungen oder Befragungen für das Hier und Heute vorzunehmen. 

Dieser Eindruck setzt sich im zweiten Bild fort: In der Regieanweisung ist Richard Wagner wieder recht detailliert in seinen Vorstellungen: »Die Bühne stellt im Vordergrund eine Straße im Längendurchschnitt dar, welche in der Mitte von einer schmalen Gasse, nach dem Hintergrunde zu krumm abbiegend, durchschnitten wird, so dass sich in Front zwei Eckhäuser darbieten, von denen das eine reichere –  rechts – das Haus Pogners, das andere einfachere – links - das des Hans Sachs ist. – Vor Pogners Haus eine Linde; vor dem Sachsens ein Fliederbaum.«

Dem folgt der Bühnenbildner Wolfgang Wagner fast auf das Wort. Flieder und Linde haben im Modell zwischenzeitlich Blüten und Blätter eingebüßt, vor allem aber der Flieder, der dann so bedeutsam besungen werden soll, erfüllt seine Funktion. Und wieder leuchtet der Sandstein im Nürnberger Rot, wieder ist der Raum derart optisch abgeschlossen, dass es keine Ferne, kein Außen zu geben scheint. Funktional sind die Türen und vor allem die zahlreichen in der Höhe sich erstreckenden Fenster angeordnet. Dient die Szenerie des zweiten Aufzuges ja vielen szenischen Anforderungen – intimen Vorgängen ebenso wie im Finale mit der Prügelfuge auch einem ausgewachsenen Chortableau, währenddessen die Frauen zur Befriedung der Prügelei u.a. Wasser aus der Höhe verschütten.

Im Vergleich mit der während des NS stilbildenden Ausstattung von Benno von Arent fällt hier auf, dass die Architektur tatsächlich den realen Bauformen entspricht, während sich im Entwurf Benno von Arents von 1935 für die Reichsparteitage mit seinem Fachwerk, den verspielten Erkern, Giebeln und Türmchen sehr viel stärker das in der Romantik überformte Idealbild Nürnbergs wiederfindet. Gleichzeitig, denkt man wiederum an die Nachkriegsinszenierung Wieland Wagners von 1956 in Bayreuth, die für die Szene nur eine gepflasterte Strecke im leeren blauen Raum, in dem frei ein übergroßes Rund violetter Fliederblüten schwebte, benötigte, wird deutlich, dass wir es hier mit einer realistischen, ideologisch unverdächtigen bildnerischen Setzung zu tun haben.

Wobei, spätestens im nächsten Bild, der Werkstatt von Hans Sachs, muss sich der Bühnenbildner für einen Raum entscheiden, der auch eine Figurendeutung impliziert: Denn Hans Sachs war, wie es auch die Oper akzentuiert, Schuster und Poet dazu. Also: Handwerker und Intellektueller. In der bildlichen Darstellung war es lange Zeit beliebt, Hans Sachs als Humanisten und Gelehrten zu zeigen – angelehnt an Darstellungen u.a. von Erasmus von Rotterdam, also vor allem umgeben von Büchern und Lesepult. Je stärker sich der Fokus auf den volkstümlichen Aspekt des Dichters verschob, desto eher entschied man sich für die Darstellung als Handwerker. Wenig überraschend also, dass z.B. Benno von Arent einen Stubenraum erfand, der die Gelehrtenstube mit der Schusterwerkstatt verband und somit die Volksnähe und Legitimation des Dichters aus völkischer Sicht unterstrich.

Interessant ist, dass bei genauer Lektüre der Regieanweisung auffällt, dass für Richard Wagner die Frage »Schuster oder Poet?« weniger relevant gewesen zu sein schien als die theaterpraktische Funktionalität der Wege- und Blickführung: »In Sachs’ Werkstatt. Kurzer Raum. Im Hintergrund die halb geöffnete Ladentür, nach der Straße führend. Rechts zur Seite eine Kammertür. Links das nach der Gasse gehende Fenster, mit Blumenstöcken davor, zur Seite ein Werktisch. Sachs sitzt auf einem großen Lehnstuhle an diesem Fenster, durch welches die Morgensonne hell auf ihn hereinscheint: Er hat vor sich auf dem Schosse einen großen Folianten und ist im Lesen vertieft.«

Wolfgang Wagner entscheidet sich für eine fast schon beengte, reduziert ausgestattete Studierstube mit Lesepult, charakteristischem Renaissancestuhl, Truhe und einigen Folianten als Ausweis der Gelehrsamkeit. Die Stube wird gerahmt von Säulen aus rotem Gestein und mächtigen Balken, das Ganze ist eingebunden in eine massive, dunkle Wand unbehauen wirkender Felsbrocken. Keine sichtbaren Türen oder Ausblicke, wieder ein frontaler Abschluss eines klar begrenzten Innenraums. Eine bei allem Realismus der Ausformung fast schon bruitistische Deutung der Werkstatt. Und eine starke Engführung um den Überraschungseffekt für das letzte Bild, die Festwiese, wirkungsmächtig vorzubereiten.

Der Vorgang der Bühnenbildverwandlung von der Schusterstube zur Festwiese ist immer eine bühnenbildnerische wie technische Herausforderung. Bei Richard Wagner heißt es dazu ganz lapidar mit der Geste des Dichters: »Die Vorhänge sind nach der Höhe aufgezogen worden; die Bühne ist verwandelt.« Aber wie soll das gehen, und was stellt das letzte Bild dar? »Diese stellt einen freien Wiesenplan, im ferneren Hintergrunde die Stadt Nürnberg. Die Pegnitz schlängelt sich durch den Plan …  Eine erhöhte Bühne mit Bänken und Sitzen darauf ist rechts zur Seite aufgeschlagen; …«

Die Lösung, die Wolfgang Wagner fand, löste bei der Premiere in Dresden spontanen Szenenapplaus aus. Denn die Bild-Dramaturgie des Abends, die bisher horizontlose, zum Teil ausweglos erscheinende Innen(stadt)-Räume vorgeführt hatte, öffnete sich nun mit Aplomb in die Weite der Natur, in deren Zentrum eine alles überragende Linde das Bild bestimmte. Auf Stadtsilhouette wie auf Pegnitz konnte verzichtet werden … der Lebensbaum symbolisiert das gemeinsame Zentrum der sich dort bunt und vielfältig versammelnden Gesellschaft. Für Wolfgang Wagner strebte in seiner Deutung alles hier hin, auf die Festwiese, wo ein Volksfest der Versöhnung und des utopischen Miteinanders gefeiert wird. Weshalb es ihm auch wichtig war zu zeigen, dass es final zu einer demonstrativen szenischen Versöhnung zwischen dem Volkshelden Hans Sachs und dem unglücklichen (und von Richard Wagner mit antisemitischen Attributen versehenen) Sixtus Beckmesser kommt. 

In der aktuellen Inszenierung der »Meistersinger von Nürnberg« von Jens-Daniel Herzog zitiert das Bühnenbild von Mathis Neidhardt im letzten Bild diese Linde als ein Ausstattungselement der Inszenierung von Wolfgang Wagner im Rahmen eines Theaterfestes.

Die Semper Geschichte erschien am 9. Mai 2023. Autor: Johann Casimir Eule (Chefdramaturg)