Semper Geschichte/n

Von der Kraft der Solidarität

oder Wie eine operntaugliche Geschichte entsteht

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Uraufführung von Udo Zimmermanns Oper »Levins Mühle« am 27. März 1973 an der Semperoper gibt das Historische Archiv einen Einblick in die Libretto-Werkstatt.

Udo Zimmermanns (1943–2021) Oper »Levins Mühle« war nach dem Frühwerk »Weiße Rose« von 1967, das er noch als Studierender an der Hochschule für Musik Dresden zur Uraufführung brachte, und der Oper »Die zweite Entscheidung«, die 1970 an den Städtischen Bühnen Magdeburg ihre Uraufführung feierte, bereits seine dritte Oper – und die erste für die Staatsoper Dresden, welcher 1976 noch »Der Schuhu oder die fliegende Prinzessin« folgen sollte. Die ersten drei Werke basieren alle auf Libretti seines Bruders Ingo Zimmermann (*1940), der u.a. auch die Libretti für die Musikalische Komödie »Amphitryon« von Rainer Kunad und die Oper »Der goldene Topf« von Eckehard Mayer verfasst hatte. 

Wie bereits bei den beiden Vorgänger-Werken beschäftigen sich Autor und Komponist auch in »Levins Mühle« mit einer dezidiert politischen Fragestellung – aus einer der neuen Staatsform gegenüber positiven Haltung und Vorstellung heraus, mit ihrem Werk künstlerisch zu einer besseren Gesellschaft beitragen zu können. Im Wechselspiel interessierte sich die Politik für die Konzeption und der Entwurf wurde diskutiert …

Wie der Titel es andeutet, basiert die Oper auf dem Roman »Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater« von Johannes Bobrowksi (1917–1965), der 1964 in Berlin/Ost und Frankfurt am Main erschienen war. Die Handlung spielt in Westpreußen im Jahr 1874. Der reiche deutsche Mühlenbesitzer Johann hat durch Öffnung seiner Schleusentore die Mühle seines jüdischen Konkurrenten Levin zerstört. Seine Tat ist offensichtlich, lässt sich aber nicht beweisen. Levins Klage wird von der korrupten und von Johann bestochenen Obrigkeit zurückgewiesen. Er findet jedoch Unterstützung bei den armen polnischen Einwohnern des Ortes, Zigeunern und Zirkusleuten. Bei Johanns Siegesfeier im Gasthaus trägt der Liedersänger Weiszmantel ein entlarvendes Lied vor – »Großes Wasser hat gegeben...« –, in dem offen die Sabotage angesprochen wird, und provoziert so einen Tumult. Die Arbeiter, Armen und Ausgebeuteten solidarisieren sich mit Levin und schmeißen Johann mitsamt seinen Kumpanen aus dem Wirtshaus. Johann gibt seine Mühle auf und verlässt das Dorf. Levin und Weiszmantel werden rehabilitiert. Was in der knappen Zusammenfassung schlüssig erscheint und im Ergebnis auch der Erwartungshaltung der offiziellen Stellen entsprach, gestaltete sich in den ersten Entwicklungsstufen noch anders. 

Von 18 losen Szenen zum dramatischen Tableau

Im Historischen Archiv der Sächsischen Staatstheater finden sich insgesamt drei Versionen des Librettos aus der Feder Ingo Zimmermanns, anhand derer sich die Entwicklung des dramatischen Höhepunktes der Oper sehr anschaulich nachvollziehen lässt. Dieser liegt in der großen angelegten tableauartigen Massenszene in der Gaststube, kurz vor Ende der Oper. Das Geschehen baut sich dabei schrittweise auf: Zuerst gibt es einen Zirkusauftritt, der durch die staunenerregenden Darbietungen für ausgelassene Stimmung sorgt. Als nächstes tritt der fahrende Sänger Weiszmantel hinzu und singt sein Lied vom »Großen Wasser …«. Hierin beschreibt er in Andeutungen die Sabotage Johanns – alle verstehen diese Botschaft, sowohl Johann und seine Freunde als auch die Arbeiter und Armen. Es kommt zum Handgemenge, an dessen Ende der triumphale Sieg der Arbeiter steht. Dabei liegt der Fokus auf der direkten Auseinandersetzung zwischen den sozialen Schichten und auf dem Sieg, den sich die Arbeiter durch die gegenseitige Solidarisierung selbst ermöglicht haben. 

Die Dispositionsskizze des Librettos vom Oktober 1969 gibt dabei noch eine andere Struktur vor: Die Oper gliedert sich in 18 lose Szenen, vor allem aber liegen die Momente der Zirkusvorstellung und der entlarvende Auftritt Weiszmantels zeit-räumlich entfernt von der großen Prügelei des Endes. Dazwischen eingefügt sind die Szenen des Gerichtsprozesses, Szenen, in denen Johann Honoratioren wie Richter und Pfarrer besticht. Die kleinteilige Zergliederung gibt nicht nur einen anderen Rhythmus vor, es wird auch noch sehr viel stärker der Fokus auf den reichen Mühlenbesitzer Johann und seine Machenschaften gelegt. Im Prozess der Ausarbeitung fallen schließlich bereits im Exposé vom Januar 1970 einige dieser Szenen weg, der Umfang reduziert sich bereits auf nur noch neun Szenen – wie später auch im finalen Textbuch – und der Fokus des Geschehens rückt weg von Johann und stärker hin zum Aspekt des solidarischen Wirkens der Arbeiter und Armen. 

Erfolg bei Publikum und Kritik

Es ist anzunehmen, dass die Gründe für diesen Umarbeitungsprozess sowohl dramaturgischer Natur waren als auch kulturpolitischen Aspekten Rechnung getragen werden musste. So weist die in der DDR tätige Musik- und Theaterwissenschaftlerin sowie Dramaturgin Sigrid Neef in ihrem Buch »Deutsche Oper im 20. Jahrhundert – DDR 1949–1989« darauf hin, dass es bereits während des Erarbeitungsprozesses Kritik von Interpreten und Kulturfunktionären an der Gestaltung der Oper gegeben habe, die darauf abzielte, dass die dargestellten Konflikte nicht hinreichend sozial, sondern als zu allgemein menschlich begründet seien. 

Zur Uraufführung am 27. März 1973 wurde denn auch prompt der dargestellte Prozess der Solidarisierung lobend herausgehoben. So schrieb zum Beispiel die Zeitung ›Die Union‹ am 31.03.1973: »Wenn in der Prügelszene die einfachen Leute Oberhand gewinnen oder im Finale die beiden polnischen Mühlenarbeiter Nieswandt und Korrinth sich die Arbeitsbedingungen selbst ›diktiert‹ haben, dann spürt man den Atem der Selbstbefreiung des Arbeitsstandes. Dieser humane Ausdruck zuversichtlicher Hoffnung wurde spontan als das eigentliche Anliegen der Oper deutlich, Wegweiser zu einem neuen Lebensgefühl und Menschenbild.«

Dirigent der Uraufführung war Siegfried Kurz, Regie führte Harry Kupfer, der damit eine seiner ersten Regiearbeiten als Operndirektor in Dresden zeigte. Der große Erfolg von »Levins Mühle« begründete Udo Zimmermanns internationales Ansehen als zeitgenössischer Komponist. Allein in Dresden gab es 26 Aufführungen. In rascher Folge kamen in Weimar (bereits am 28. März 1973!), Stralsund, Meiningen und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) Folgeinszenierungen heraus. Gastspiele der Dresdner Staatsoper führten die Inszenierung u.a. nach Wiesbaden, Leningrad (St. Petersburg), Prag und Berlin. In Westdeutschland wurde »Levins Mühle« erstmals 1975 in einer eigenen Inszenierung in Wuppertal herausgebracht, weitere Neuproduktionen u.a. in Hannover, Bielefeld, Kassel, Düsseldorf oder Leipzig (im Jahr 2000) zeigen, dass das Werk, welches in seiner Entstehung deutlich durch zeit- und ortgebundene Faktoren mitgeprägt wurde, dank seines musikalischen und menschlichen Gehalts auch über (zeitliche) Grenzen hinweg wirksam war und ist. 

Die Semper Geschichte erschien am 19. Mai 2023. Autor*innen: Ruth Fechner und Johann Casimir Eule