Semper Geschichte/n

»Ich will Grenzen aufbrechen«

17 Jahre lang, von 2006 bis 2023, bestimmte der kanadische Ballettdirektor Aaron S. Watkin die Geschicke, die Entwicklung und das Bild des Semperoper Ballett und seiner 68-köpfigen Company. Im Sommer 2023 verlässt Watkin Dresden und wird Ballettdirektor am English National Ballet (ENB). Eine – persönliche – Semper Geschichte in Form einer Choreografie.

Préparation: Der Anfang

Als ich 2006 nach Dresden kam, war die Stadt noch in den letzten Phasen des Wiederaufbaus begriffen. Große Teile der Altstadt waren bereits fertig, aber an vielen Stellen wurde noch gebaut und erneuert. Irgendwie passte dieser Umstand zu meiner Situation: Ich fand an der Semperoper eine Ballettcompany vor, die ich zwar schon kannte, weil ich mit ihr schon gearbeitet hatte, aber meine Aufgabe als Ballettdirektor und künstlerischer Leiter war nun, etwas Neues aufzubauen. Ich brachte neue Tänzer*innen, Choreograf*innen und Ballettmeister*innen mit und hatte das Gefühl, Stadt und Company werden gemeinsam neu aufgebaut und wachsen miteinander. 

Meine Vision bestand darin, die klassische Tradition zu pflegen, zum Leuchten zu bringen und gleichzeitig die Innovation im Tanz, das Zeitgenössische, voranzutreiben.

Pas de trois: Prägende Choreograf*innen

Gleich mein erstes Programm, der dreiteilige Ballettabend »Wiedergeburt und Auferstehung« im November 2006 wurde von der Idee eines gemeinsamen Wachsens inspiriert. Ich wollte Tradition neben Innovation stellen und kuratierte ein Programm mit Werken von drei sehr wichtigen Choreografen, die eine sehr enge Beziehung zu mir haben. Der erste war für mich George Balanchine. Er ist ein zeitloses Genie, ebenso modern sind seine Stücke. Sie stammen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, wirken aber in ihrer Modernität und Überzeitlichkeit, als ob sie erst gestern oder sogar heute entstanden sein könnten. Der Abend begann mit »Thema und Variationen«. Die Innovation wollte ich durch den jungen, aufstrebenden Choreografen David Dawson nach Dresden bringen. Er kreierte für die Eröffnung die Uraufführung »The Disappeared« (Das Verschwundene) und sollte in den kommenden Jahren als Hauschoreograf das Bewegungsvokabular der Company formen und prägen. Beide Stücke rahmten die Dresdner Erstaufführung von Willam Forsythes »Enemy in the Figure« ein. Forsythe war maßgeblich daran beteiligt, dass ich die Position des Ballettdirektors in Dresden bekam und es war mir sehr wichtig, auch eines seiner Stücke zu zeigen. Es war ein wirklich dynamisches, aufregendes Programm mit sehr unterschiedlichen Welten – klassisch, neoklassisch, modern und zeitgenössisch. Das war mein Statement für den Beginn und die Arbeit, die ästhetische Prägung dieser drei Choreografen zieht sich wie ein roter Faden durch meine gesamte Dresdner Zeit.

Natürlich gab es auch viele andere Handschriften, die ich dem Dresdner Publikum präsentieren wollte. Vor allem in meinen mehrteiligen Ballettabenden hatte ich die Möglichkeit, so viele verschiedene Tanzsprachen wie möglich zu zeigen und das Publikum daran teilhaben zu lassen. Ich hatte Choreograf*innen hier wie Ohad Naharin, Mats Ek und Jiří Kylián, die großen Meister des vergangenen Jahrhunderts und dann junge kreative, dynamische Leute wie Alexander Ekman, Stijn Celis, Johan Inger Helen Pickett und viele andere mehr. Die Liste ließe sich unendlich weiterführen bis hin zu unseren jungen Choreograf*innen aus der eigenen Company.

Arabesque penchée: Eigene Produktionen

Natürlich wollte ich neben den mehrteiligen Programmen auch abendfüllende Stücke auf den Spielplan setzen und so habe ich mich in meinen ersten Jahren stark auf die Wiederbelebung der Klassiker wie »Dornröschen« (2007), »Die Tempeltänzerin/ La Bayadère« (2008), »Schwanensee« (2009) oder »Der Nussknacker« (2011) konzentriert. Dabei war mir wichtig, die Bewegungssprache Marius Petipas oder Lew Iwanows technisch auf höchstem Niveau in ein frisches Gewand aus Bewegung und Ausdruck zu kleiden. Wir hatten an diesem fantastischen Haus die notwendigen Kapazitäten in Technik und Kostüm, um diese Ausstattungsstücke entsprechend in Szene setzen zu können. Ich wusste, unser Publikum – wie jedes Publikum – liebt klassische Ballette. Das gab uns einerseits Sicherheit in der Bindung unserer Zuschauer*innen und andererseits die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, etwas zu wagen in der Wahl unserer Choreograf*innen. 

Aber auch moderne abendfüllende Ballette wie David Dawsons neo-klassische »Giselle« (2008) oder die Ballette von Johan Inger wie »Carmen« (2019) und »Peer Gynt« (2022) sind in der Zwischenzeit hinzugekommen. Von Johan Inger ist in der kommenden Spielzeit dann noch eine Uraufführung zu erleben, in der er den berühmten »Schwanensee«-Stoff neu interpretiert.

Fouetté en tournant: Wichtige Produktionen

Ich bin sehr stolz darauf, dass wir es nach vielen Jahren der Vorbereitung geschafft haben, 2019 Pina Bauschs »Iphigenie auf Tauris« nach Dresden gebracht zu haben und es als erste Company nach dem Wuppertaler Tanztheater aufführen durften. Das ist wirklich eines meiner Highlights unter den vielen großartigen Stücken der letzten 17 Jahre. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir das realisieren konnten. Ein weiteres wichtiges Projekt ist für mich Crystal Pites »Plot Point«, das in der kommenden Spielzeit nun endlich erstmals überhaupt in Deutschland zu sehen sein wird. Leider werde ich dann nicht mehr dabei sein, freue mich aber, dass es nach acht (!) Jahren Planung und Verschiebung durch die Corona-Pandemie nun endlich möglich sein wird, dem Dresdner Publikum die Kunst dieser großartigen aus Kanada stammenden Choreografin zeigen zu können.

Aber wenn ich zurückgehe in den Jahren sind da natürlich noch unzählige andere Leuchttürme wie 2012 die Dresdner Erstaufführung von Ohad Naharins »Minus 16« in dem Dreiteiler »Bella Figura«. Abende wie »Ein Sommernachtstraum« (2018) mit »The Dream« von Frederick Ashton und David Dawsons Uraufführung »The Four Seasons« sind schon allein dadurch besonders, weil die fantastische Sächsischen Staatskapelle Dresden beide Stücke mit Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusik und Max Richters Adaption von Vivaldis »Vier Jahreszeiten« so grandios begleitet hat. Auch der Sinfoniechor der Semperoper war mit dabei. Ich liebe diese spartenübergreifenden Produktionen. Besonders war auch der Mehrteiler »Labyrinth« mit Martha Grahams »Errand into the Maze« neben vielen anderen klassischen und zeitgenössischen Tanzsprachen bis hin zu einer Uraufführung eines unserer jungen Choreografen, Joseph Hernandez. Es gäbe hier noch viele Stücke, die ich aufzählen könnte, doch dafür reicht der Platz nicht.

Ich finde es essentiell, dass wir diesen so wichtigen Bogen von der Klassik zur Moderne schlagen und immer weiter diesen Weg gehen. Ich liebe das Klassische Ballett, meine eigenen Produktionen zeigen das deutlich. Aber ich liebe es genauso wie die Moderne, das Zeitgenössische. Niemand soll sich in Dresden entscheiden müssen. Alles ist Tanz! Ich will dem Publikum von allem etwas zeigen und will Grenzen auf der Bühne und in den Köpfen aufbrechen.

Grand manège: Auf Tournee!

Wichtig sind mir in Hinsicht auf die einzigartige Identität unserer Company die Tourneen, die wir ab der Spielzeit 2012/13 unternommen haben. Mit unserem sehr breitgefächerten Repertoire wie »Impressing the Czar« oder »In the Middle, Somewhat Elevated« (beide von William Forsythe) und »The Four Seasons« (David Dawson) wurden wir viele Male eingeladen und waren in den letzten Jahren u.a. in Südafrika, den Vereinigten Staaten, in Singapur, Adelaide, London und allein drei Mal in Paris. Und immer, wenn man dann wiederkommt, kann man wieder eine andere Farbe, eine neue Handschrift zeigen. Seither wird die Dresdner Company anders wahrgenommen und ist zu einem international renommierten und oft eingeladenen Ensemble gewachsen.

Aber auch innerhalb Dresdens sind wir »auf Tour« gewesen. Wir haben mit »On the move« an so vielen ungewöhnlichen Orten wie dem Militärhistorischen Museum, der Gläsernen Manufaktur, dem Hygiene-Museum oder dem Albertinum getanzt, Performances und Installationen gestaltet. Zuletzt haben wir zwei Jahre die »Sommerbühne« der Palucca Hochschule für Tanz Dresden mitgestaltet. Und immer war da eine besondere Nähe zum Publikum, es war viel einfacher, die Leute einzubeziehen, in den Dialog mit ihnen zu treten.

Attitude: Die Identität der Company

Die Herausarbeitung einer zwischen Kunst und Persönlichkeit eng miteinander verwebten Company-Kultur ist neben der Schaffung einer einzigartigen Identität der zweite große Bereich meiner Vision von Tanz, so wie ich ihn hier in Dresden versucht habe, zu initiieren und aufzubauen. Ein Direktor ist nur so stark wie sein Team. Ich finde es wichtig zu wissen, was unsere Identität als Künstler*innen und Menschen ausmacht. Nur wenn wir wissen, wer wir sind, können wir herausfinden, was wir zu bieten haben.

Alle unsere Tänzer*innen sind individuelle Persönlichkeiten und werden als solche auch gefördert. Darüber hinaus ›sind‹ wir nicht nur jede Choreografie, die hier aufgeführt wird, sei sie klassisch, neo-klassisch oder abstrakt. Wir sind auch die Beziehungen, die wir zu den Choreograf*innen pflegen; aber auch der Umgang im Haus, mit den Gästen der Company etc. Unser Feedback ist: Jede*r fühlt sich wohl, wenn er bei uns arbeitet. Die Tänzer*innen sind sehr zugewandt und offen. Diese Kultur haben wir von Anfang so aufgebaut. Fragt man Leute von außen, was sie so mögen am Semperoper Ballett, dann sagen sie zuerst immer: das Repertoire und danach kommt sofort unsere Company-Kultur.

Réverénce: Der Abschied

Ich bin voller Dankbarkeit für alles, was ich in Dresden gelernt habe und welche tollen Erfahrungen ich machen durfte. Ich hatte hier so viele Möglichkeiten, meine Ideen zu entwickeln und umzusetzen, vor allem in den ersten 10 Jahren, und dazu ein tolles Team an Mitarbeiter*innen. Die Covid-Zeit war für uns alle hart und danach war es wirklich schwer, zu der Arbeit, wie wir sie gewohnt waren, zurückzukehren. Alles hat sich verändert und wir mussten einen neuen Modus finden. Aber das haben wir gemeinsam geschafft! Und das liegt auch an unserem Publikum. Immer gab es eine erwartungsvolle Spannung zu den Premieren, vor allem, wenn etwas ganz Neues dabei war, an das man sich noch gewöhnen musste, aber immer hatte man das Gefühl, das Publikum ist für uns, bereit sich zu amüsieren, auch schon vor dem Beginn des Stückes. Die Zuschauer*innen waren »voll dabei«. Dieser Zuspruch und die vielen ausverkauften Vorstellungen zeigen mir, dass ich mit meiner Programmatik und den Herausforderungen an Company und Publikum richtiglag.

Mit der Premiere von »White Darkness« hat sich für mich ein künstlerischer Kreis hier in Dresden geschlossen. In dem Dreiteiler ist mit dem neo-klassischen Meisterwerk »The Second Detail« von William Forsythe ein Stück zu sehen, das mich schon seit meiner zweiten Spielzeit hier begleitet hat und ich konnte mit Sharon Eyal und Nacho Duato noch einmal zwei neue Choreograf*innen präsentieren. Das war für mich ein großartiger Abschluss und ich verlasse Dresden mit einem Gefühl der Erfüllung und des Stolzes auf das, was wir zusammen geschaffen haben. Ich bedanke mich bei allen für 17 Jahre Treue und Unterstützung des Semperoper Ballett und eins ist klar: Die Semperoper wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben.

Die Semper Geschichte erschien am 20. Juni 2023. Autor: Aaron S. Watkin, aufgezeichnet von: Juliane Schunke (Dramaturgin)