»Semper!«-Magazin

FÜNF 2022/23

Vorwort

Liebes Publikum,

endlich konnten wir wieder eine richtige Spielzeit mit allen Premieren durchführen und Ihnen einen verlässlichen Spielplan anbieten. Wir freuen uns auch sehr, dass wir Sie in großer Zahl bei uns begrüßen durften – die Verunsicherungen der vergangenen Jahre ließen das nicht unbedingt vermuten.

Nun haben wir in dieser Saison noch drei Premieren vor uns, die alle auf ihre Weise sehr speziell sind.

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»White Darkness« ist das Finale einer Ära: Nach 17 Jahren verlässt uns Ballettdirektor Aaron S. Watkin Richtung London. Dieser dreiteilige Ballettabend mit Choreografien von William Forsythe, Sharon Eyal und Nacho Duato zeigt die aufregende Bandbreite neuer Formen und Sprachen des Tanzes. Die Kreationen belegen die Neugier auf interessante Choreograf* innen, die Aaron S. Watkin nach Dresden holen konnte und mit denen es ihm im Einklang mit der Pflege des klassischen Balletts gelang, unsere Ballett-Company zur absoluten Weltklasse zu entwickeln. Vielen Dank für viele außergewöhnliche Vorstellungen, lieber Aaron, und für deine neue Aufgabe: »Break a leg!«

Mit Tschaikowskys »Pique Dame« feiert der Regisseur Andreas Dresen sein Debüt an unserem Haus. Seine wunderbaren Filme wie »Halbe Treppe«, »Sommer vorm Balkon« oder »Gundermann« bestechen durch ihre genaue und einfühlsame Beschreibung von Menschen und die immer von einem feinen Humor geprägte Erzählweise. Mit Sicherheit wird sich diese im deutschen Film einmalige Qualität auch auf der Opernbühne mitteilen.

Auch in Semper Zwei steht noch eine Premiere an: das Rock-Musical »The Toxic Avenger – Der Rächer der Vermüllten«. Fetzig, frech und politisch inkorrekt erzählen David Bryan (Komposition) und Joe DiPietro (Texte) die Geschichte eines jungen Mannes, der durch einen Unfall zum Superhelden wird, und New Jersey – die Müllhalde New Yorks – vor dem endgültigen Untergang retten will.

Zum Schluss gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort: Nach 46 Jahren wird Carola Schwab – vielen als Solistin im Semperoper Ballett und an meiner Seite in der Semperoper Education bekannt – in den Ruhestand gehen, der bei ihr sicher keiner sein wird. Danke, liebe Carola, genieß die Zeit – auf Wiedersehen in der Semperoper! 

Ihr
Manfred Weiß
Künstlerischer Leiter Semper Zwei und Leiter Education


Premiere

Was ist unser Leben? Ein Spiel! Gut und Böse – nur Träume!

HERMANN

Premiere

Die Stimme des Außenseiters

Über Tschaikowskys Seelenverwandtschaft mit Hermann in »Pique Dame«. Nach mehr als 75 Jahren kommt Tschaikowskys vorletzte Oper zurück auf die Bühne der Semperoper – in einer Inszenierung des renommierten Film- und Opernregisseurs Andreas Dresen

»Was ist unser Leben? Ein Spiel! Gut und Böse – nur Träume! Arbeit, Ehrlichkeit – Märchen für Weiber! Wer hat Recht, wer ist hier glücklich, Freunde? Heute du und morgen ich! Beendet den Kampf, ergreift den Moment des Erfolgs.« Kurz bevor sich am Ende von Pjotr I. Tschaikowskys Oper »Pique Dame« – am 19. Dezember 1890 im Mariinskij-Theater uraufgeführt – der Vorhang schließt, beschwört die männliche Hauptfigur Hermann in dieser zentralen Arie kraftvoll und fatalistisch das Schicksal. Von seiner manischen Spielsucht angetrieben, fühlt er sich siegessicher und spielt mit vollem Risiko am Spieltisch im Kasino. Früher musste er noch zuschauen und beäugte neidisch, wie seine russischen Offiziersfreunde spielten. Nun ist aber seine Stunde gekommen, er meint zu wissen, wie er mit drei magischen Karten gewinnen kann. Er setzt alles und muss schließlich konstatieren, dass er scheitert. Er verliert nicht nur das Spiel, sondern auch sein Gesicht vor seinen Freunden. Wer ist Hermann und was passierte vor diesem nihilistischen Credo?

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DER AUSSENSEITER HERMANN UND DER REIZ DES VERBOTENEN

Die Oper beginnt in einem Sommerpark in St. Petersburg, in dem Spaziergänger das Leben genießen und Ammen, Kindermädchen und Gouvernanten den Mädchen und Jungen zuschauen, wie sie fröhlich spielen. So harmlos die Szene auf den ersten Blick scheint, so brutal wird sie vom militarisierten Drill einer kriegsverherrlichenden Jugend getrübt: »Das Vaterland zu schützen, ist unser Los. Wir steh’n bereit zu kämpfen und die Feinde in großer Zahl gefangen zu nehmen!« Von klein auf wird suggeriert, dass eine Militärkarriere das höchste Ziel im Leben sei, und die Kampfmoral, die eben auch den Kriegsdienst beinhaltet, oberste Priorität hat. Junge adlige Männer bekamen oftmals aufgrund ihrer Standeszugehörigkeit den Offizierstitel geschenkt. Wohlstand war ihnen in die Wiege gelegt worden, sodass sie den Sold als Taschengeld verstanden und ihn beispielsweise im Kasino verprassen konnten. 

Hermann ist zwar ein Offizier, aber mit deutscher Abstammung und nicht adelig: Er verfügt weder über die nötigen Mittel noch über die ererbte Nonchalance, um an der St. Petersburger »Jeunesse dorée« teilzuhaben. Zusätzlich passt seine depressive innere Haltung nicht in die mondäne Welt des zaristischen Russlands: Hermann ist ein Außenseiter. Als Rastloser und Suchender zugleich wird er in die Oper eingeführt: »Ich habe mich verloren.« Er sucht händeringend nach einem Sinn in seinem Leben. Zum einen erzählt ihm sein Freund, der Graf Tomskij, eine Geschichte von drei gewinnbringenden Karten, mit denen man angeblich jedes Spiel gewinnt. Sein Jagdinstinkt nach dem Wissen über diese drei Karten ist geweckt. Zum anderen lernt er eine Frau kennen, die jedoch für ihn unerreichbar ist: Lisa ist sowohl adelig als auch dem Fürsten Jelezkij versprochen. Sein Eroberungsdrang lässt sich aber nicht bremsen: Er trifft Lisa heimlich und bringt sowohl sie als auch sich selbst in Gefahr. Lisa ist hin- und hergerissen zwischen der Adelswelt, in die sie hineingeboren wurde, mit all ihren materiellen Vorzügen und dem attraktiven, ungewöhnlichen Hermann, der den Reiz des freien, ungebundenen Menschen verkörpert. Ist Lisa vom Zauber der Reaktanz erfasst? Die Psychologie versteht darunter den Drang, genau das zu bekommen, was verboten ist und dadurch die eigene Freiheit zu erweitern. Lisa ist unglücklich mit ihrem zukünftigen Ehemann Fürst Jelezkij, daher ist es ihr recht, mit Hermann eine nächtliche Affäre zu beginnen. Doch in Hermann spürt sie dessen Unsicherheit, seinen krankhaften Drang, die drei Karten zu kennen, um endlich im Spielkasino selbst spielen zu können. Da Hermann selbst ihre Befürchtung, dass sie stets die Zweitplatzierte in seinem Leben ist, quasi bejaht, bricht für sie eine Welt zusammen. Zurück in ihr vertrautes Zuhause kann sie unterdessen auch nicht mehr, denn als Hermann beim nächtlichen Eindringen in das Gemach ihrer Großmutter, der Gräfin, diese mit einer Pistole bedroht hat, um das Geheimnis der drei Karten zu erfahren, starb die Gräfin vor Schreck. Das Fremdgehen Lisas hat sogar zur Auflösung der Verlobung mit Fürst Jelezkij geführt. Sie sieht daher keinen anderen Ausweg mehr, als sich in den Fluss zu stürzen. 

TSCHAIKOWSKYS SEELENVERWANDTSCHAFT MIT HERMANN

Zunächst konnte sich Pjotr I. Tschaikowsky nicht für Alexander Puschkins gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1834 begeistern, obschon er einmal mit einer Puschkin-Vertonung einen großen Erfolg verzeichnete: »Eugen Onegin«, uraufgeführt 1879 in Moskau. Auf Geheiß des damaligen Direktors des Marinskij-Theaters, Iwan Wsewoloschskij, schrieb Tschaikowskys Bruder Modest das Libretto zu »Pique Dame«; das Theater wünschte sich eine große Ausstattungsoper im Stil der Grand Opéra. Tschaikowsky, der zu dieser Zeit als Komponist und Dirigent auf dem Zenit seiner Karriere stand und inständig nach einem Sujet für eine neue Oper suchte, entschloss sich schließlich doch für Puschkins Vorlage. Und auf einmal konnte ihn nichts mehr bremsen. In einem wahren Schaffensrausch in Florenz schrieb Tschaikowsky innerhalb von nur sechs Wochen die gesamte Oper. Dem Theaterdirektor berichtete er: »Ich sage Ihnen nur, dass ich mit Begeisterung und Selbstvergessenheit schrieb und dass ich meine ganze Seele in diese Arbeit gelegt habe.« Warum Tschaikowsky so stürmisch an diesem Projekt gearbeitet hat, lässt sich auf seine innere Verbindung zu Hermann zurückführen; so stellte Tschaikowsky in seinem Tagebuch fest: »Schrecklich geweint, als Hermann seinen Geist aufgab. « Tschaikowsky war ohnehin ein sehr sensibler Mensch und schrieb 1876: »Einerseits bin ich zweifellos krank, weniger physisch als psychisch.« Damit meinte er hauptsächlich seine Depressionen, die zu jener Zeit als Krankheitsbild noch unerforscht waren. Fast noch schlimmer war für ihn, dass er seine Homosexualität verbergen musste, um nicht der Ächtung der Gesellschaft zum Opfer zu fallen. Mit Scheinbeziehungen zu Frauen versuchte Tschaikowsky, den Idealvorstellungen der russischen Gesellschaft zu gefallen, in seinem Inneren führte dieses Spiel jedoch zu den bereits erwähnten schweren Depressionen, brachte ihn an den Rand des Wahnsinns und machte ihn sogar suizidgefährdet. Tschaikowsky war also selbst ein Außenseiter und fühlte sich als solcher seelenverwandt mit Hermann: »Hermann [war] für mich nicht nur der Anlass, diese oder jene Musik zu komponieren, sondern jederzeit ein wirklicher lebendiger Mensch, der mir sehr sympathisch ist.« Daher ist es auch verständlich, dass Tschaikowsky, insbesondere auch musikalisch, seinen Hermann als Besessenen darstellt, der den gesellschaftlichen Idealvorstellungen nicht gerecht werden kann und selbst zum Opfer wird. Die Gesellschaft mit ihren strengen Regeln und Ritualen verbietet einem Außenseiter wie Hermann das Ausbrechen oder das Führen eines individuellen Lebens. Hermann geht an den äußeren Zwängen zugrunde. Bei Puschkin übrigens wird Hermann als Wahnsinniger in eine Irrenanstalt eingeliefert; in Tschaikowskys Version ist das Ende durch Hermanns Tod zugespitzter. 

ANDREAS DRESEN, DAS ERSTE MAL AN DER SEMPEROPER

Andreas Dresen, bekannt nicht nur als Filmregisseur mit Filmen wie »Gundermann« (2018) und »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« (2022), sondern auch als Opernregisseur mit »Arabella« und »La fanciulla del West« an der Bayerischen Staatsoper, möchte die Zerrissenheit von Hermann deutlich zeigen, seinen inneren Konflikt zwischen seiner bedingungslosen Liebe zu Lisa und seiner manischen Spielsucht. Was spielt sich in seinem Kopf ab, was erträumt er sich oder projiziert er in andere Figuren? Bei Dresen ist Hermann auch ein Gefangener seiner selbst. Das Bühnenbild von Mathias Fischer-Dieskau unterstützt diese Lesart, denn es zeigt einen abstrakten Raum, der die inneren Welten der Protagonist*innen ins Zentrum der Inszenierung setzt. Die Figuren sind einem mächtigen System ausgeliefert, das gnadenlos Regeln und Rituale diktiert und individuelle Entfaltung hemmt. 

Benedikt Stampfli

Hermann [war] für mich nicht nur der Anlass, diese oder jene Musik zu komponieren, sondern jederzeit ein wirklicher lebendiger Mensch, der mir sehr sympathisch ist.

PJOTR I. TSCHAIKOWSKY

Ansichten

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La sonnambula

Vincenzo Bellinis 1831 in Mailand uraufgeführte Oper »La sonnambula« gilt neben der nur ein halbes Jahr später herausgebrachten »Norma« als sein bedeutendstes Werk: Aberglaube und Rückständigkeit kosten Amina beinah ihr Lebensglück, denn sie schlafwandelt. Amina gerät nachts in das Zimmer eines fremden Mannes und wird von ihrem Geliebten Elvino der Untreue angeklagt und verlassen. Erst Rodolfo, der scheinbare Verführer, kann mit seinem Wissen das Phänomen erklären und die Geschichte zu ihrem Happy End führen. Regisseur Rolando Villazón inszeniert Aminas Geschichte als eine Flucht aus der Enge ihres Dorfes in eine andere, innere Welt. 

Nahaufnahme

Nahaufnahme

Konfliktpotenzial

Die Oper »Nabucco« geht zurück auf eine alttestamentarische Geschichte, in der das Streben des jüdischen Volkes, sich aus babylonischer Gefangenschaft zu befreien erzählt wird. Regisseur David Bösch hat die Handlung deshalb in seiner Inszenierung in einer Region angesiedelt, die in biblischen Zeiten ebenso eine Krisenregion war wie heute, dem Nahen Osten.

Beim genauen Blick auf das militärische Kostüm der Abigaille, der angeblich erstgeborenen Tochter des Königs Nabucco, erkennt man ein Brustband. Die Farben eines Brustbandes lassen eigentlich auf eine Landeszugehörigkeit oder aber einen Dienstgrad schließen. Im Fall des Kostüms, das auf der Nahaufnahme zu sehen ist, wurde die Farbreihenfolge jedoch fiktiv gewählt. David Bösch zeigt den Religionskonflikt als einen Gegensatz zwischen Gewalt – verkörpert durch die Babylonier – und Gewaltlosigkeit – verkörpert durch das Judentum – was in dieser Militäruniform einmal mehr Ausdruck findet.

Premiere

Premiere

»Think Outside The Box«

In seiner letzten Premiere mit dem Semperoper Ballett präsentiert Ballettdirektor Aaron S. Watkin mit dem Dreiteiler »White Darkness« ein packendes Programm von William Forsythe, Sharon Eyal und Nacho Duato

Laut Ballettdirektor Aaron S. Watkin ist Musikalität, jedoch in völlig unterschiedlichen Richtungen ausgeprägt, das elementare Bindeglied zwischen den drei Choreograf*innen des neuen Programms des Semperoper Ballett, das ab dem 3. Juni 2023 zu erleben sein wird. Tanzästhetisch zeugen die zeitgenössischen Kreationen von William Forsythe, Sharon Eyal und Nacho Duato von einer »radikalen Vielfältigkeit«, die eine Brücke von der neo-klassischen zur modernen Tanzsprache schlägt.

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DEKONSTRUKTION TRIFFT AUF HULA: »THE SECOND DETAIL«

»Dass ›The Second Detail‹ sozusagen meine Amtszeit in Dresden beschließen würde, ist ein absoluter Zufall. Doch irgendwie passt es auch, weil diese Kreation schon einmal zu Beginn meiner Tätigkeit hier zu sehen war – auf diese Weise schließt sich der Kreis«, resümiert Aaron S. Watkin. Hinzu kommt die Tatsache, dass Watkin im Laufe seiner aktiven Zeit als Tänzer auch selbst in dieser Produktion mitwirkte, als sie im Jahr 1991 mit dem National Ballet of Canada uraufgeführt wurde. William Forsythe lasse sich durchaus in die ästhetische Richtung »Ballett« einordnen, weil seine Handschrift – ausgehend von Marius Petipa und George Balanchine – neoklassische Spuren aufweise. Neben Forsythes minimalistischer Ausstattungsästhetik, definiert durch einen fast leeren, hellen Bühnenraum und Tänzer*innen in hautengen elastischen Trikots, werden auch Geometrie und die fließende Wechselwirkung aus Musik und Choreografie in das künstlerische Schaffen eingearbeitet. Forsythes Herangehensweise an Tanz lässt sich am besten als eine Mischung aus Dekonstruktion und gleichzeitiger Erweiterung des »typischen« Ballettvokabulars charakterisieren. Letzteres geschieht beispielsweise durch die gezielte Einbeziehung von Improvisationstechniken in die choreografische Arbeit: Die Company wird dazu animiert, Aufgaben zunächst gedanklich zu lösen und im nächsten Schritt körperlich umzusetzen. Die abstrahierte, nicht-erzählende Form des Tanzes wird in dem Einakter »The Second Detail« in besonderer Form deutlich: Die Grenzen zwischen Auf- und Abtritten, Tanzfläche und Nicht-Bühne, freier und traditioneller Ballett-Ästhetik scheinen fließend und sind eng mit der streng polyrhythmischen und kontrapunktisch konzipierten Klangkulisse abgestimmt. Gemeinsam mit der elektronischen Musik von Thom Willems, einem langjährigen Kreativ-Partner Forsythes, bilden Elemente wie Rhythmus, Affekt, Impuls, Bewegung und Dynamik auf körperlicher wie musikalischer Ebene eine synästhetisch untrennbar wirkende Einheit, die schließlich in einem neuartig interpretierten und kollektiv getanzten Hula gipfelt. Diese aus Hawaii stammende Kunstform vereint Sprechgesang mit symbolgeladenen Gesten und Körperbewegungen. Auf diese Weise wohnt dem Hula ein erzählender Charakter inne, der in seinem Ursprungsland sogar der Überlieferung kulturellen Wissens dient und unterschiedlichen Kodifizierungsarten unterliegt, deren versteckte Bedeutungsebenen nicht universell zu dechiffrieren sind.

KEINE CHOREOGRAFIE, SONDERN GAGA: »HALF LIFE«

Im Jahr 2017 kreierte Sharon Eyal »Half Life« am Königlich Schwedischen Ballett in Stockholm. Laut Aaron S. Watkin besteche besonders ihr Sinn für die kraftvolle Bewegungsführung des tänzerischen Kollektivs. Die intensive Gruppendynamik der Tanzenden evoziert einen spürbaren Energiefluss, der sich aufgrund seiner hypnotischen Aura von der Bühne auf den Zuschauerraum überträgt. Vor der Techno-Klangkulisse des aus der Club-Szene kommenden Komponisten Ori Lichtik, den Eyal bereits seit über 15 Jahren kennt, bilden pulsierende Rhythmen in Atmung und tänzerischem Ausdruck eine organische Einheit, die Anklänge eines originären Ritus in sich birgt, in dessen rauschhafter Flüchtigkeit sich der Betrachter verlieren kann. Die Künstlerin Sharon Eyal stellt sich mit ihrem Tanzstück, das sie gemeinsam mit ihrem Partner und Co-Choreograf Gai Behar schuf, erstmals an der Semperoper vor. Zunächst dem klassischen Ballett zugewandt, tanzte sie ab 1990 unter der künstlerischen Leitung des Israeli Ohad Naharin, dem Begründer der »Gaga-Technik«, bei der 1964 von der Baronin Batsheva de Rothschild gegründeten Batsheva Dance Company in Tel Aviv. Diese stand anfangs unter der künstlerischen Leitung der US-amerikanischen Ikone des Modernen Tanzes, Martha Graham. Hier trat Eyal auch ihre choreografische Laufbahn an und war zwischen 2005 und 2012 sogar Hauschoreografin. Seit 2009 ist Eyal auf internationaler Ebene tätig und gründete 2013 schließlich gemeinsam mit Behar ihre eigene Company, L-E-V, benannt nach dem hebräischen Wort für »Herz« als ein Pars pro toto für die Regungen tief im Innersten des Menschen.

Bereits Balanchine prägte den Gedanken, dass »handlungslos« nicht gleichbedeutend mit »abstrakt« zu setzen sei. Denn ihm zufolge böten bereits zwei Tanzende auf der Bühne genug Stoff für eine Choreografie, weil sie für ihn selbst schon eine Art von Geschichte erzählten, wenn auch in stark reduzierter Form. Demzufolge ist gar keine konkrete Bühnenhandlung nötig, um etwas »zu erzählen«. Sharon Eyals Art des Kreierens ist ein stetiger, intuitiver und (selbst-)reflexiver Arbeits- und wechselseitiger Lernprozess, der von Eyals Unterbewusstsein beeinflusst wird und kein zielorientiertes Arbeiten: Eyals »Körper-Bewusst-Sein« dient als Grundlage für die Vorgänge zwischen den Darsteller*innen.

NUR EINE LINIE BREIT VOM TOD ENTFERNT: »WHITE DARKNESS«

Auf den ersten Blick mag das Oxymoron »White Darkness « paradox erscheinen – verleitet es doch zu der Assoziation mit weiterführenden Dualismen wie Licht und Schatten, Weiß und Schwarz, Tag und Nacht, Gut und Böse, die aufgrund ihres Spannungsfeldes allesamt eng mit unserem Gefühlsleben verbunden sind. Doch der Spanier Nacho Duato betitelte seine Kreation aus dem Jahr 2001 bewusst mit diesem essenziellen Hell-Dunkel-Kontrast, der unser Dasein kaum deutlicher zusammenfassen könnte, nämlich als Leben und Tod. Das Licht absorbierende Schwarz und das energetisch strahlende Weiß werden daher auch eng mit Gefühlsregungen und negativen bzw. positiven Lebenserfahrungen assoziiert. Über all diese Hintergründe reflektiert Duato unter dem bildhaften Titel seines Werkes, das er ursprünglich mit der Compañía Nacional de Danza zur Musik von Sir Karl Jenkins in Madrid erarbeitete. Und dies aus einem sehr persönlichen Grund: den Verlust seiner an Drogenkonsum verstorbenen Schwester.

Gleichsam der Gravitation schwarzer Löcher, die alles Helle und Materielle in sich aufsaugen, so führen Suchterscheinungen dazu, dass viele Menschen von einer anfänglichen Grauzone in die finstere Ausweglosigkeit hinabdriften. »White Darkness« porträtiert eine weibliche Hauptfigur, die in einen Strudel von innerer Verlorenheit gerät, weil sie ihren Glauben an die Liebe verloren hat und versucht zu vergessen. Doch ihr Ausweg mündet nicht etwa über einen Verarbeitungsprozess in einem hoffnungsvollen, neuen Lebensabschnitt, sondern ufert in einen unkontrollierten Wahn aus, in dem die Droge nur vorübergehend ihren inneren Schmerz betäuben und vermeintliche Freude bringen kann. In einem assoziativen Tanzraum, in dem der »berauschende Schnee« aus dem Bühnenhimmel rieselt und durch »das erste Probieren« bis hin zur körperlichen und psychischen Abhängigkeit zum integrativen Bestandteil des Geschehens wird, ergründet der Spanier auf tänzerische Weise die Höhen und Tiefen, die Konsumierende von Rauschmitteln erleben und setzt diese Stimmungen in Beziehung mit dem sozialen Umfeld der Betroffenen. Oszillierend zwischen Manie und Depression, übersetzt Nacho Duato die allmähliche Obsession seiner Hauptfigur in ein mannigfaltiges Bewegungsvokabular. Körperliche und seelische Begleiterscheinungen von Abhängigkeit und Entzug werden durch das fragile, emotional ergreifende Interagieren des zentralen Tanzpaars getragen und regen zum Nachdenken und Mitfühlen an.

DER KREIS SCHLIESST SICH…

… indem sich die drei Choreografien dieser Neuproduktion inhaltlich vom unklar Definierten zum Erzählenden bewegen. Tanzästhetisch beweisen alle drei Teile zudem sehr deutlich und auf vielseitige Art, dass sich das zeitgenössische Ballett aus dem Korsett der »alten Schule« befreit hat. 

Regina Genée

»I am deeply struck by how sad it is when young people allow drugs to ruin their lives and slip into a dark world, a world so dark, in fact, that there is no escape from it.«

NACHO DUATO

2x2 Fragen

2 x 2 Fragen

... an Tomislav Mužek

Der kroatische Tenor und Ensemblemitglied Tomislav Mužek in der Rolle des Walther von Stolzing in Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«

WAS GEFÄLLT IHNEN BESONDERS AN DER INSZENIERUNG VON JENS-DANIEL HERZOG?

Ich finde die Idee, dass die Inszenierung »Theater im Theater« spielt, interessant. Zudem ist die Personenregie sehr schlüssig und ich kann mich sehr gut damit identifizieren. Das ganze Team ist toll und ich genieße die Arbeit sehr. Es gibt auch sehr lustige Momente und ich kann es kaum erwarten, mit meiner Partie auf der Bühne zu stehen.

 

IM LETZTEN AUFZUG DER »MEISTERSINGER« GELINGT STOLZING DIE VOLLENDUNG SEINES PREISLIEDES, DEM HANS SACHS DEN SCHÖNEN NAMEN »SELIGE MORGENTRAUM- DEUTWEISE« VERLEIHT. WORIN LIEGT FÜR SIE DIE BEDEUTUNG DIESES LIEDES UND SEINER NAMENSGEBUNG?

Wenn Stolzing in der Schusterstube am Anfang des 3. Aktes aufwacht, hatte er »einen wunderschönen Traum«. Als ihn Hans Sachs auffordert, ein Lied zu dichten, nimmt er den Traum als Inspiration und deutet ihn. Er sieht im Traum seinen Sieg beim Wettbewerb voraus und somit die Eroberung Evas.
 

WIR HABEN DAS GLÜCK SIE IN IHREM ROLLENDEBÜT ALS WALTHER VON STOLZING AN DER SEMPEROPER ERLEBEN ZU KÖNNEN. WIE HABEN SIE SICH AUF DIE PARTIE VORBEREITET?

Mein Debüt war vor zwei Jahren an der Bayerischen Staatsoper vorgesehen, fand aber coronabedingt nicht statt. Die Vorbereitungen begannen jedoch bereits vor 10 Jahren, als ich in Bayreuth mein Debüt als Erik (»Der fliegende Holländer«) gab. Die Sommer in Bayreuth sind lang und man hat die Möglichkeit, mit fantastischen Korrepetitoren zu arbeiten. Eine Partie wie Stolzing braucht seine Zeit, um in die Stimme und in den Körper zu wachsen.

 

HATTEN SIE IN IHRER KARRIERE SCHON MAL LUST, DIE PARTIE EINES ANDEREN SÄNGERS IN DIESER OPER ZU SINGEN?
Es gibt so viele spannende Partien, die man sich als Sänger wünscht zu singen, aber man ist durch das Stimmfach limitiert. Oft singt man dann zu Hause die eine oder andere Arie zum Spaß. Ich denke, dass gerade auch »Beckmesser« eine Partie ist, die sich viele Sänger unabhängig vom Fach wünschen, schon alleine wegen der Spielmöglichkeiten. 

kurz und bündig

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Verkaufsstart für »Tristan und Isolde« und »Die Frau ohne Schatten«

Am 7. Juni 2023 startet um 10 Uhr der Vorverkauf für die Vorstellungen »Tristan und Isolde« und »Die Frau ohne Schatten« online auf unserer Website semperoper.de. Am Tag des Verkaufsbeginns ist zudem in der Schinkelwache die persönliche Buchung möglich. Es können grundsätzlich nur zwei Karten pro Person erworben werden.

»Tristan und Isolde«: 21., 25., 28. Januar & 3. Februar 2024, Karten ab 40 Euro
»Die Frau ohne Schatten«: 23., 27., 30. März & 2. April 2024, Karten ab 40 Euro

Premiere

Premiere

Ein Superheld aus der Giftmülltonne

Das Rock-Musical »The Toxic Avenger« von Joe DiPietro und David Bryan erzählt vom Kampf eines supernetten Mutanten gegen Umweltverschmutzung und Korruption. Nun kommt der »toxische« Held des 21. Jahrhunderts auf die Bühne von Semper Zwei

In der US-amerikanischen Stadt Traumaville ist der Ausnahmezustand mittlerweile Alltag: Jede Straßenecke ist eine Giftmülldeponie, das Wasser stinkt vor Abfällen, und der Smog hängt permanent über der Stadt und verdreckt die Luft. Melvin Mark von Quark – jung, tollpatschig und naiver, als ihm guttut – will die Täter*innen hinter diesem Umweltskandal zur Rechenschaft ziehen; er hofft, als gefeierter Held endlich die Liebe von Sarah, der blinden, wunderschönen Bibliothekarin von Traumaville, zu erringen. Er findet heraus, dass die Bürgermeisterin Babs Belgoody selbst für die riesigen Müllhalden in der Stadt verantwortlich ist: Für die Abnahme von Manhattans Abfall verdient sie hohe Summen in ihre private Kasse.

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Mit seinem Appell an ihr Gewissen beißt er aber auf Granit: Die Bürgermeisterin sieht gar nicht ein, diesem heimlichen Nebenverdienst ein Ende zu bereiten und engagiert kurzerhand zwei Schläger, die Melvin zum Schweigen bringen sollen. Sie stürzen ihn in ein Fass mit giftigem Chemiemüll. Dabei stirbt er jedoch nicht, sondern entsteigt dem Fass als giftgrüner, stinkender Mutant, ausgestattet mit übermenschlichen Kräften. Als »Toxie, Rächer der Vermüllten«, wie er schnell in Traumaville genannt wird, will er nun die Stadt von Müll und Korruption befreien. Dabei muss er aber nicht nur seine wahre Identität und sein schreckliches Aussehen vor Sarah geheim halten – nein, auch die Gegenseite schläft nicht. Die Bürgermeisterin findet schnell heraus, wie dieser Toxie besiegt werden kann: Ganz gewöhnliches Bleichmittel genügt, um den Mutanten zu töten …

TRASH, KULTFILME UND MUSICALS

Rasant geht es zu in diesem Musical, unverschämt, überzeichnet – eine Story voller Selbstironie: »The Toxic Avenger« ist gleichermaßen umweltbewusste Sozialkritik und grelle Satire, bis an den Rand gefüllt mit bitterbösem Humor. Die Liebesgeschichte zwischen Sarah und Toxie wechselt ständig zwischen kurzen Momenten, die fast rührend wirken, und bewusst überdrehtem Klischee.

Eine unerhörte Story mit krasser Vorlage: Die Handlung dieses Musicals, geschrieben von David Bryan und Joe DiPietro, basiert auf dem gleichnamigen Trash-Film aus dem Jahr 1984, in dem das damalige Amerika in einer Mischung aus Egozentrik, Sexismus und unverhohlener Gewaltbereitschaft dargestellt wurde, mit expliziten Szenen in der Ästhetik billiger Splatter-Filme, politisch keinesfalls korrekt. Dieser Film, gedreht von Lloyd Kaufman, entwickelte sich zum Kultklassiker und zog eine ganze Reihe von Folgefilmen, Comicserien, eine Roman-Adaption, Merchandising nach sich – und auch das Musical von Bryan und DiPietro. Aus New Jersey gebürtig, war es für die beiden Künstler eine Herzensangelegenheit, diesen Film in ein Musical zu verwandeln und New Jersey damit ein kritischhumorvolles Denkmal zu setzen. Bei »The Toxic Avenger« handelt es sich um ihre zweite Zusammenarbeit. Als Team hatten sie zuvor bereits »Memphis « konzipiert und 2002 erfolgreich zur Uraufführung gebracht: Ein Musical, das über die Jahre mehrmals mit den prestigeträchtigen Tony Awards ausgezeichnet worden ist, unter anderem als »Best Original Score« sowie »Best Musical«. Bereits in diesem Stück verhandeln die beiden dezidiert soziale Themen: die Rassentrennung im Amerika des 20. Jahrhunderts, den Traum vom künstlerischen Erfolg und die verbindende Kraft der Musik, angesiedelt im multikulturellen Leben einer Großstadt. Mit »The Toxic Avenger« wandten sie sich 2009 erneut aktuellen, brisanten Themen zu: Korruption, die Lust an Gewalt und die Umwelt- und Giftmüllskandale unserer Zeit.

ZIEMLICH KOMISCH UND AUCH ETWAS ABSURD

Vor allem aber ist es ein Musical voller Humor; ein Stück, das die Menschen zum Lachen bringt und das sich voller Witz und Sarkasmus den drängenden Themen unserer Zeit nähert: nicht nur über die Lyrics von Joe DiPietro, sondern auch über die musikalische Sprache im Stil des Rock’n’Rolls von David Bryan. Die Komposition ist temporeich, ironisch und voller Rhythmus. Entstanden ist ein Soundtrack voller romantischer Balladen, Songs, die einem Rock-Konzert entsprungen zu sein scheinen, und sogar einem Duett einer Sängerin mit sich selbst. Die Band besteht denn auch aus Keyboard, Schlagzeug, E-Bass, Gitarre, Saxophon und Kastagnetten. In Semper Zwei hat die Musikalische Leitung dieser Band Alexander Hoetzinger inne, der als Drummer, Komponist und Produzent bereits mit einer Vielzahl von Bands, Orchestern und Musical-Ensembles gearbeitet hat. Auf den »Toxic Avenger« freut er sich ganz besonders: »David Bryans Musik versetzt mich zurück in die Zeit des ›Hair Metal‹ Ende 80er/ Anfang 90er Jahre. Als Drummer war ich damals in mehreren Bands und bei vielen Album-Produktionen aktiv. Im Rückblick erscheint mir diese musikalische ›Epoche‹ mit ihren großen Gesten, Powerchords, Macho-Gehabe mit gleichzeitig in Spandex-Hosen gezwängten, auftoupierten und geschminkten Protagonisten ziemlich komisch und auch etwas absurd. Aber was hatten wir für unsagbaren Spaß! Diese Musik jetzt in ›The Toxic Avenger‹ im Kontext eines superwitzigen Trash-Musicals auf die Bühne zu bringen, wird ein großes Vergnügen werden! Ich kann’s kaum erwarten!«

Zum ersten Mal kommt dieses Rock-Musical nun nach Dresden auf die Bühne von Semper Zwei. Manfred Weiß inszeniert die Geschichte mit Witz und Tempo in der Ausstattung von Okarina Peter und Timo Dentler, die die Weite der Großstadt in all ihrer Korruption und Verschmutzung in Szene setzen. Vor einer riesigen Skyline voller Wolkenkratzer spielen fünf Darsteller*innen gut 30 verschiedene Rollen: eine aberwitzige Abfolge von Quick-Changes, bei denen innerhalb von Sekunden zwischen den verschiedensten Figuren gewechselt werden muss. Eine spannende Herausforderung für alle Beteiligten, die so einen ganzen Querschnitt durch die Bevölkerung von Traumaville zum Leben erwecken. 

Martin Lühr

Toxies Blog

Aufgepasst! Wer schon vor der Premiere etwas über Toxie, seine Mitstreiter und Gegner, das Rock-Musical von Joe DiPietro und David Bryan, die schräge Filmvorlage und weshalb uns das ganze Thema überhaupt interessieren sollte, wissen möchte, kann das ab sofort im ersten digitalen Programmheft der Semperoper – »Toxies Blog« – tun und so die Entstehung des »The Toxic Avenger – Rächer der Vermüllten« miterleben.

Ansichten

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La Cenerentola/ Aschenputtel

»La Cenerentola/ Aschenputtel« ist die nach »Il barbiere di Siviglia/ Der Barbier von Sevilla« meistgespielte Oper Gioachino Rossinis. Doch Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti sind in ihrer Fassung des berühmten »Aschenputtel«-Stoffs nicht nur auf eine Geschichte mit guter Unterhaltung und Witz aus, sondern verleihen ihren Figuren ein sehr menschliches Antlitz. Nicht Magie oder die Gunst einer höher gestellten Person führen schließlich das Happy End herbei, sondern nur die Kraft und Tugend eines reinen Herzens. Mit »La Cenerentola« gab der italienische Regisseur Damiano Michieletto 2021 sein Debüt an der Semperoper.

kurz und bündig

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Übergabe Curt-Taucher-Nachlass

Der Tenor Curt Taucher, der ab 1920 für 15 Jahre zum Ensemble der Staatsoper Dresden gehörte, ging in der Rolle des Galba in der Uraufführung »Die toten Augen «, als Tristan in »Tristan und Isolde«, in den Titelpartien im »Tannhäuser« und im »Lohengrin« sowie als Menelas in der Uraufführung »Die ägyptische Helena« in die Dresdner Musikgeschichte ein. Im Mai 2023 wird sein Nachlass durch Hartwig Sprau, Mitglied der Stiftung Semperoper – Förderstiftung, an das Historische Archiv der Sächsischen Staatstheater übergeben. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, wichtige künstlerische und persönliche Lebensdokumente des Kammersängers und Ehrenmitgliedes zu erschließen und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Staatskapelle

Staatskapelle

Ein Werk voller falscher Fährten

Zum Sonderkonzert am Vorabend der Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch 2023 verbindet die Staatskapelle die Fünfte Symphonie als eines der Zentralwerke des Komponisten mit Mieczysław Weinbergs Trompetenkonzert

Die alltäglichen Gängeleien sozialistischer Kulturpolitik wurden 1936 für Dmitri Schostakowitsch zur lebensgefährlichen Bedrohung: »Chaos statt Musik« war eine anonyme Brandmarkung in der Parteizeitung »Prawda« überschrieben. Das wohl von Stalin selbst verfasste Pamphlet bezog sich auf die als »grob, primitiv und vulgär« bezeichnete Oper »Lady Macbeth von Mzensk«, in der der Komponist die Experimentierfreude der frühen sowjetischen Jahre gleichsam in die musikalische Avantgarde überführte. Fast zwei Jahrzehnte lang lebte Schostakowitsch nun in ständiger Angst, der »großen Säuberung« zum Opfer zu fallen.

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Die vernichtende Kritik an der Oper bedeutete jedoch nicht, dass die Kulturpolitiker den 30-Jährigen für einen untalentierten Komponisten hielten. Im Gegenteil: Seit der Uraufführung seiner ersten Symphonie im Jahr 1926 galt er als großer Symphoniker. Auf diesem Gebiet sollte der Künstler darum auch die Möglichkeit einer »Rehabilitierung« erhalten. Nur so ist es zu verstehen, warum die am 21. November 1937 uraufgeführte Symphonie Nr. 5 d-Moll op.47 den Untertitel »Praktische schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf berechtigte Kritik« trug – und warum Publikum und Kulturbürokratie gleichermaßen dem Werk zujubelten.

Ganz bewusst hat die Fünfte im Gegensatz zu anderen Symphonien des Russen kein Programm. Denn sie ist ein Werk voller falscher Fährten: Richtet sich der Militärmarsch im Eingangssatz nur gegen äußere Feinde oder auch gegen Stalin selbst? Ist der deftige Dreiertakt im zweiten Satz volkstümlich oder ein Totentanz? Gilt die bewegende Klage im Largo gefallenen Helden oder ist sie ein Symbol für den Rückzug ins Innere? Und klingt der finale Jubel wirklich heiter oder nicht vielmehr wie »unter Drohungen erzwungen«, wie Schostakowitschs Memoiren darlegen?

Kombiniert wird das Schlüsselwerk mit dem Trompetenkonzert B-Dur op. 94 von Mieczysław Weinberg. Der Pole floh 1939 als 20-Jähriger in die Sowjetunion und lebte seit 1943 auf Einladung seines Freundes Schostakowitsch in Moskau. Wie dieser wurde auch Weinberg als »Formalist« angegriffen. Als er in der späten Stalin-Ära im Zuge antijüdischer »Säuberungen« inhaftiert wurde, setzte sich sein Mentor öffentlich für ihn ein. Das 1967 uraufgeführte und gleichsam virtuose wie gefühlvolle Trompetenkonzert adelte Schostakowitsch zur »Symphonie für Trompete und Orchester«. Dass es seit einigen Jahrzehnten fest zum Repertoire gehört, ist vor allem Håkan Hardenberger zu verdanken, der es regelmäßig spielt.

Hagen Kunze

Freitext

Am Himmel reißen Wolken auf. Ein Hauch, der alles reinigt. Dass es das gibt, dass es das alles gibt.

Sophie Scholl

Udo Zimmermanns »Weiße Rose« ist bis heute eine der erfolgreichsten Kammeropern. Sensibel und subtil handelt sie von den Widerstandskämpfern Hans und Sophie Scholl in den letzten Stunden vor ihrer Hinrichtung. Mit ihren Schriften, die sie innerhalb der studentischen Gruppe »Weiße Rose« anfertigen, lehnen sie sich aktiv gegen den Nationalsozialismus auf. In Rückblenden und Traumbildern erzählt Udo Zimmermanns Kammeroper »Weiße Rose« das private Schicksal zweier junger Menschen mit all ihren Ängsten und Hoffnungen.

Udo Zimmermann, »Weiße Rose«

Historisches Archiv

»Ich will keine singende Marionette sein«

In dieser Spielzeit präsentieren wir Ihnen fünf Künstlerinnen, die an der Dresdner Staatsoper Musikgeschichte geschrieben haben. Anlässlich der Premiere von »Pique Dame« steht Christel Goltz im Zentrum

»Am liebsten singe ich die große Liebende. Diese Lisa in ›Pique Dame‹ … eine dramatische Gestalt, in der ich mich als Schauspielerin auch bewähren kann«, verkündete Christel Goltz in einem Zeitungsinterview der Weiten Welt Berlin im Juni 1948.

Als eine der großen dramatischen Sopranistinnen des vergangenen Jahrhunderts wurde »die Goltz« international, vor allem aber von »ihrem« Dresdner Publikum hochverehrt. 1936 von Karl Böhm an die Staatsoper verpflichtet, gelang der Künstlerin bereits 1941 mit der Rezia (»Oberon«) der Durchbruch ins dramatische Opernfach. Innerhalb von fünf Jahren erarbeitete sie sich ein großes Repertoire und wurde hier in Partien wie Leonore (»Fidelio«), Agathe (»Der Freischütz«) und Gräfin (»Die Hochzeit des Figaro«) sowie in den Titelpartien von »Der Rosenkavalier« und »Ariadne auf Naxos« bejubelt. Legendenstatus erreichte ihre Interpretation der Salome, mit der sie internationale Erfolge feierte.

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Durch expressiven Gesang und ausdrucksstarke Gestaltungskraft vermochte es diese außergewöhnliche Sängerin, dramatische Situationen bis ins Äußerste zu verdichten: »Ich will keine singende Marionette sein. Ich mache mir Gedanken um die Gefühle der Frauengestalten, die ich singe, ich versuche, mich mit ihnen zu identifizieren. Die Operngestalten sollen singend leben. So wird auch die Oper am Leben bleiben.« (Weite Welt, Berlin 1948). Dieser idealistische Einsatz für die Kunstform Oper prägte ihr Berufsleben zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere – sowohl auf der Bühne, durch die mitreißende Vermittlung der Werke, als auch im realen Leben. Christel Goltz gehörte in der Nachkriegszeit zu der verschworenen »Künstlergemeinschaft« um Joseph Keilberth, Heinz Arnold und Karl von Appen, die in der zerstörten Stadt den Menschen durch Musik wieder Mut und Hoffnung gaben. Unter den dürftigsten Bedingungen wurde damals versucht, u.a. im Kurhaus Bühlau, den einstigen Dresdner Theaterfunken wieder neu zu entzünden. »Wir haben gefroren, unsere Mägen haben geknurrt, wir haben uns aus Gardinen Kleider gemacht und beim Singen hatten wir einen Hauch, der wie Eiszapfen war«, erinnerte sich Christel Goltz einige Jahre später.

Am 22. Juni 1947 fand in der Tonhalle, dem heutigen Kleinen Haus, die Premiere von Tschaikowskys »Pique Dame« unter der Leitung von Joseph Keilberth statt. Man müsse diese Neuinszenierung »zu den gelungensten der neuen Dresdner Opernära rechnen«, resümierte die Sächsische Zeitung zwei Tage nach der Premiere. Mit der Lisa verkörperte Christel Goltz eine verliebte junge Frau, deren Hoffnungen auf Glück und das Vertrauen in den Geliebten ihr schließlich zum Verhängnis werden. Die Presse war sich einig: »Christel Goltz … wirkt mit sanften Gebärden und stiller Haltung überaus rührend « (Union, 25. Juni 1947), »kein unbeherrschter Augenblick im Spiel, im Gesangston von unbestechlicher Klarheit« (Sächsische Zeitung, 24. Juni 1947). Diese ergreifende Darstellung des Frauentypus der »großen Liebenden«, deren Geist Christel Goltz in so vielen Opernwerken immer wieder neu interpretierte, haben viele Dresdner noch immer nicht vergessen. Christel Goltz wollte durch ihre Kunst »die Oper lebendig« erhalten – diesem Anliegen entsprach auch die Stiftung Semperoper – Förderstiftung, die bis 2012 den Christel-Goltz-Preis an herausragende Nachwuchskünstler*innen vergab. 

Katrin Rönnebeck


Opernvogel

Opernvogel

Tierische Müllsammler

Krähen sind hochintelligente Vögel. Sie lernen schnell, imitieren einander und vergrößern damit ihr Wissen. Das nutzen mittlerweile schwedische Verhaltensforscher und trainieren den etwa 45 bis 60 Zentimeter großen Vögeln das Müllsammeln an. Auch wenn es schon viele Projekte gibt, bei denen Vögel dazu gebracht werden, gegen Belohnung Dinge aufzupicken – der Versuch, Vögel zu trainieren, die Hinterlassenschaften der Menschen aufzuräumen, ist neu. Die schwedischen Forscher machen sich dazu die Neugier der Tiere und ihr vielseitiges Nahrungsspektrum zunutze. Die klugen Vögel werden trainiert, Zigarettenstummel gegen Belohnung aufzusammeln und in ein Behältnis fallenzulassen. Im Gegenzug »spuckt« der Apparat eine Handvoll Erdnüsse für die fleißigen Krähen aus.

Geklärt werden muss allerdings noch, ob die Vögel bei ihren Reinigungstouren Nikotin aufnehmen. Sollte das nicht der Fall sein, könnte das Projekt ausgeweitet werden und den Vögeln sogar helfen, sich gesünder zu ernähren. Krähen fressen im Moment tatsächlich viel Ungesundes, das Menschen weggeworfen haben. Aus den Automaten, in die die Vögel die Zigarettenkippen werfen, soll hingegen gesundes, artgerechtes Futter zur Belohnung herauskommen, auch dies wird noch optimiert. Der »Toxic Avenger« hätte seine Freude an den tierischen Müllsammlern, denn offenbar ist es Krähen eher beizubringen, Zigarettenstummel aufzuheben, als den Menschen, sie nicht mehr wegzuwerfen.

David Bryan/ Joe DiPietro, »The Toxic Avenger«

Publikumsfrage

WER HILFT DEN SÄNGER*INNEN BEI TEXTHÄNGERN?

Der Souffleur oder die Souffleuse ist eine wichtige Person im europäischen Theater. Der Begriff stammt aus dem Französischen und bedeutet »flüstern« oder »hauchen«. Für das Publikum meist nicht sichtbar, arbeitet der Souffleur/ die Souffleuse in einem Kasten am vorderen Bühnenrand. Aus diesem »Loch« heraus hilft er/ sie mit dem Subdirigat und flüstert den Sänger*innen auf der Bühne zu, was jenen gerade entfallen ist: Sätze, Einsätze oder auch Gesten. Karen Lalayan, seit der Spielzeit 2009/10 Souffleur an der Semperoper, sieht seine Funktion so: »Meine Hauptaufgabe ist psychologische und menschliche Unterstützung. Der ruhige Blick eines Souffleurs reicht manchmal schon aus, dass die Darstellenden die Konzentration wiederfinden.« Über die Erfahrung in der Vorstellung sagt Lalayan: »Man muss die Sänger*innen im Moment der Aufführung wirklich ›lieben‹ und mit ihnen jede Phrase innerlich mitsingen, miterleben. Nur so entsteht eine gute professionelle und menschliche Verbindung zwischen Sänger*innen und dem Souffleur!« 

Sie fragen, wir antworten: Schicken Sie uns Ihre Fragen rund um die Semperoper per Post an Semperoper Dresden, Kommunikation & Marketing, Theaterplatz 2, 01067 Dresden oder per E-Mail an marketing@semperoper.de

Lieblingsmoment

Lieblingsmoment

Schönheit und Mitgefühl in unruhigen Zeiten

Mein Lieblingsmoment an der Semperoper ereignete sich in einer nicht so angenehmen Zeit unseres Lebens, während der Covid-Pandemie. Wir probten alle zusammen für unsere Premiere von »Blues Brothers« und eine*r nach der/ dem anderen wurde positiv auf Covid getestet – die gesamte Besetzung. Es war eine sehr traurige Zeit für uns, da wir nicht wussten, ob wir alle rechtzeitig für unsere Premiere gesund werden würden und ob die Premiere dem Publikum präsentiert werden könnte. Ich war so bewegt und berührt von der Liebe und Unterstützung des gesamten Teams. Unser Wohlbefinden war wichtiger als die Produktion. Regisseur Manfred Weiß hat uns tatsächlich Lebensmittel vor die Tür gestellt und uns angerufen und ermutigt. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich an das Mitgefühl und die Fürsorge denke, die die Kolleg*innen der Semperoper aufbrachten, um uns alle wieder gesund zu machen. Und am Ende war unsere Premiere ein riesiger Erfolg – alle waren gesund. Teamarbeit, Mitgefühl und Talent: eine sehr seltene Kombination zu allen Zeiten, aber wenn man das erlebt, davon Zeuge wird … überwältigend. David Whitley, Cab Calloway / James Brown / Ray Charles in »Blues Brothers«


Premierenrezept

Premierenrezept »Pique Dame«

Brot und Spiele

Snack-Ideen für den Spieleabend

ZUTATEN
Gurken-Röllchen – Zutaten: 1 Salatgurke, 50g Quark (20 Prozent Fett), 50g geräuchertes Forellenfilet, 1 Teelöffel Meerrettich (aus dem Glas), Salz, Pfeffer, etwas Zitronensaft, eine Packung Gartenkresse, 25g getrocknete Tomaten.
Knusperwürfel (80 Stück) – Zutaten: 100g Gruyère, 25g Parmesan (Stück), 125g Mehl, ½ TL Backpulver, 125g Butter, 2 bis 3 EL Mohn, 2 bis 3 EL Sesam

Die Verpflegung in Spiele-Runden muss einfach sein: Das wusste auch schon der britische Graf Montagu, der vierte Earl of Sandwich. Seine Spielleidenschaft soll für die Erfindung eines beliebten Fingerfoods verantwortlich gewesen sein: Er beauftragte seinen Diener, ihm sein geliebtes Roastbeef zwischen zwei Brotscheiben zu servieren, damit er es – ohne sein Spiel zu unterbrechen – mit einer Hand essen konnte. Wir haben uns hier – anlässlich der Premiere der Oper »Pique Dame« – zwei Rezepte jenseits des Sandwiches für einen unterhaltsamen Spieleabend ausgesucht:

Für die Gurkenröllchen geschälte Gurke mit einem Sparschäler der Länge in Streifen schneiden, auf Küchenpapier legen und abtupfen. Quark mit Forellenfilet und Meerrettich pürieren, mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft würzen. Zwei Gurkenstreifen übereinanderlegen und jeweils mit einem halben Teelöffel der pürierten Creme bestreichen, mit etwas Kresse und klein geschnittenen getrockneten Tomaten bestreuen und einrollen.

Für die Knusperwürfel Gruyère und Parmesan fein reiben. Mehl und Backpulver in einer Schüssel mischen. Käse und Butter in Stückchen hinzufügen, zu einem glatten Teig verkneten, 30 Minuten kaltstellen. Teig halbieren und jede Hälfte auf etwas Mehl erst zur Rolle (circa 35 Zentimeter Länge), dann mithilfe eines Lineals zu einer quadratischen Stange formen. Eine Stange in Mohn, die zweite Stange in Sesam wenden und die Körner leicht andrücken. Beide Stangen circa 1 Stunde kaltstellen. Backofen auf 200°C vorheizen. Stangen in knapp 1 Zentimeter dicke Scheiben schneiden, 8 bis 10 Minuten auf Backpapier backen. 

Susanne Springer

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