Die Kindheit bewahren

Die Kindheit bewahren

Zauberei, Magie, das Wunderbare haben in der Oper eine lange Tradition. Zu den bevorzugten Stoffen des Barock gehörten Geschichten mit phantastischen Elementen: Einerseits antike Vorlagen wie Ovids »Metamorphosen«, Homers »Odyssee« und Vergils »Aeneis«, andererseits die damals sehr populären Ritterromane von Ludovico Ariost »Orlando furioso« aus dem Jahre 1516, Torquato Tasso (»Gerusalemme liberata«, 1581) und Garcia Rodriguez de Montalvo (»Amadis de Gaula«, 1508). Im 18. Jahrhundert kamen als Quelle für Opernstoffe – vor allem in der französischen Opéra comique – so genannte »Féeries«, Feenmärchen mit Liebesgeschichten, hinzu. Zu diesen Quellen zählt auch Christoph Martin Wielands 1778 erschienene Sammlung »Dschinnistan, oder auserlesene Feen- und Geistermaehrchen«, auf die Emanuel Schikaneder beim Verfassen des Librettos der »Zauberflöte« zurückgegriffen hat.

Zahlreiche in der Handlung dieser Oper verwendete Motive sind in den hier aufgeführten Märchen vorgebildet. Ebenfalls seit den Anfängen der Oper wird über die Berechtigung dieser irrationalen Elemente heftig gestritten. Ihren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung während der Aufklärung: In seinem »Versuch einer kritischen Dichtkunst« hält der Schriftsteller und Theoretiker Johann Christoph Gottsched, vom französischen Rationalismus beeinflusst, am Postulat der »Wahrscheinlichkeit« fest und fordert unter Berufung auf die Lehre von der Nachahmung der Natur den Verzicht auf das Wunderbare, da es dem Intellekt widerspräche. Die kindliche Märchenwelt mit den Zauberinstrumenten Flöte und Glockenspiel, dem Tischlein-Deck-Dich, der alten Frau, die sich in ein junges Mädchen verwandelt etc. bildet allerdings nur eine, die märchenhafte Ebene der »Zauberflöte«.

Ein zweite, die dem Sarastro-Reich zuzuordnen ist, versinnbildlicht die Utopie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, nämlich die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft, die auf der Herrschaft der Vernunft basiert. Erzählt wird auf dieser Ebene die Geschichte vom Sieg des Sonnenreiches über das Königreich der Nacht. Dass das Licht der Sonne dabei symbolisch für die helle Vernunft steht, wie eben auch die Nacht für dunkle Triebe, Unwissenheit und Verrat, bedient die Symbolik der Utopie der Aufklärung. Fasziniert beschließt Tamino, sich den Prüfungen der Sarastro-Bruderschaft zu stellen, um von den Eingeweihten aufgenommen zu werden.

Der Prüfungsweg steht für die Initiation, das Erwachsenwerden, aber auch für die Entwicklung aus der Unmündigkeit hin zu einem aufgeklärten Menschen. Am Ende wird Tamino, der Prinz, dessen Herkunft niemand kennt, mit den Normen vertraut, in die Welt der Erwachsenen eingegliedert. Er hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Schikaneder und Mozart aber führen uns den zweischneidigen Charakter des Erwachsenwerdens vor, denn Sarastros Reich ist alles andere als ein idealer aufgeklärter Staat. Die Priester übertrumpfen sich in frauenfeindlichen Äußerungen, es gibt Sklaven, die Eingeweihten nehmen den Tod der Kandidaten während der Initiation in Kauf. So ist es kein Wunder, dass der »Naturmensch« Papageno sich mit seinem gesunden Menschenverstand den Prüfungen widersetzt. Tamino dagegen ist ein gelehriger Schüler, er übernimmt sofort die Ansichten der Eingeweihten und bringt Pamina durch das ihm auferlegte Schweigen an den Rand des Selbstmordes. Wenn Tamino und Pamina am Ende der Oper von den Eingeweihten aufgenommen werden, ist allen apotheotischen Gesängen zum Trotz ein Moment der Desillusionierung zu spüren. In Achim Freyers Inszenierung endet die Geschichte in Trümmern, dem Ergebnis des Krieges zwischen Sarastro und der Königin der Nacht.

Friedlich, nach bestandenen Prüfungen vereinen sich dagegen die Vertreter der nachfolgenden Generation: Pamina und Tamino ebenso wie Papagena und Papageno sind die eigentlichen Sieger der Geschichte, weil sie auf ihre Liebe vertrauen und so die ideologischen Gegensätze der Elterngeneration überwinden. Denn für sie gilt nicht die ausschließliche Entscheidung für den Tag oder für die Nacht. Helle Vernunft und dunkle Natur hinterlassen beide ihre Spuren in den Figuren. Der große Autor Erich Kästner bringt es auf den Punkt: »Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie erwachsen, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.«

Sophie Becker und Hans-Georg Wegner