Werkkommentar

Warum singt ein Mensch auf der Bühne?

Gedanken zu Claudio Monteverdis »Orfeo«

»Ich bin die Musik, die mit lieblichen Tönen dem verwirrten Herzen Ruhe schenkt«, so stellt sich La Musica, die Allegorie der Musik, im Prolog von Claudio Monteverdis »L’Orfeo« vor. Und La Musica erklärt weiter, dass sie selbst in eiskalten Herzen »bald edlen Zorn, bald Liebe« entfachen kann. Ihr Ziel? Die Menschen nicht nur zu erfreuen, sondern in ihnen die Freude an der Harmonie des Kosmos zu erwecken. Was für ein Vorhaben!

»L’Orfeo«, 1607 am Hof des Herzogs von Mantua uraufgeführt, gilt als erste echte Oper überhaupt. Sie beginnt nicht nur mit einer Selbstbeschreibung der Musik, sondern handelt auch von Musik. Der mythische Sänger Orpheus ist die Hauptfigur; an ihm will La Musica als Fallbeispiel den Zuhörer*innen ihre Kunst demonstrieren. Orpheus heiratet zu Beginn der Handlung Eurydike, in die er lange unglücklich verliebt war. Doch noch am Tag der Hochzeit stirbt Eurydike an einem giftigen Schlangenbiss. Orpheus beschließt, Eurydike aus dem Hades, dem Reich der Toten, zurückzuholen, und er hat sogar Erfolg damit. Die einzige Bedingung des Gottes der Unterwelt: Orpheus darf Eurydike beim Gang zurück in die Oberwelt nicht ansehen. Doch der Sänger kann seinem Verlangen nicht widerstehen, und Eurydike stirbt endgültig.

Eine neue Art von Musik: die Seconda pratica

Der Held der ersten Oper ist ein Mensch, der sein junges Glück ebenso singend der Welt mitteilt wie sein Leid, der mit seinem Gesang den Wächter der Unterwelt um Mitleid anfleht und der den Tod der Gattin wiederum singend beklagt. Dass ein Mensch sein Schicksal durch Gesang darstellt, ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich. Es ist vielmehr ein Ergebnis des wohl bedeutsamsten Umbruchs in der Geschichte der europäischen Musik überhaupt, den Claudio Monteverdi (1567-1643) selbst maßgeblich gestaltete. Die Musik des 16. Jahrhunderts war geprägt von Madrigalen und Motetten, in der meist fünf Stimmen nach strengen, fast mathematischen Regeln gegeneinander gesetzt wurden. Dies änderte sich um das Jahr 1600 radikal. Zwar komponierten auch Monteverdi und seine Zeitgenossen noch fünfstimmige Madrigale, aber im Zentrum ihrer neuartigen Musik stand nun nicht mehr die Kunst des Kontrapunkts, sondern die Darstellung und Auslegung literarischer Texte: Musik nicht als Mathematik, sondern als Rhetorik! Erst die Musik dieser – wie Monteverdi es nannte – »seconda pratica« war in der Lage, menschliche Emotionen auszudrücken und sie beim Zuhörer zu erwecken, und sei es um den Preis, dass musikalische Regeln verletzt werden. Gerade in seinem in den Jahren vor »L’Orfeo« entstandenen Vierten und Fünften Madrigalbuch kann man beobachten, wie Monteverdi – ganz im Einklang mit dem Humanismus der Renaissance – in seiner Musik dem menschlichen Subjekt eine Stimme gibt. In den Jahren um 1600 lernt die Musik, »Ich« zu sagen. 

Und Orpheus, wie ihn Alessandro Striggio in seinem Libretto darstellt, nutzt jede sich bietende Gelegenheit, von seinem »Ich« zu sprechen, von seinem höchsten Glück mit Eurydike, von seiner tiefsten Trauer. Orpheus ist ein Mensch der Extreme, der Verzweiflung, Glück, Trauer und Leid bis ins Letzte auskostet und sich selbst – ganz ein Mensch der Renaissance – an die Spitze des Kosmos setzt. Genau diese Extreme aber sind es, die Monteverdi mit Musik darstellt. Wenn etwa mitten in Orpheus’ überschwängliches Tanzlied die Nachricht von Eurydikes Tod platzt, dann schildert Monteverdi den Schock der Anwesenden, indem er weit entfernt liegende Tonarten regelrecht aufeinander krachen lässt – und genau damit lässt er die Zuhörer*innen die emotionale Erschütterung des Orpheus auf fast körperliche Weise erleben. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte kann Musik dramatische Handlung nicht nur umrahmen, sondern selbst erzählen, kann nicht nur Textworte ausdeuten, sondern die innere Haltung des singenden Ichs erlebbar machen.

Singend sich selbst erkennen

Doch ausgerechnet die beiden bekanntesten Szenen des Orpheus-Mythos erzählt Monteverdi in seiner Oper nicht: Sein Orpheus muss nicht vor dem Gott der Unterwelt singen, um Eurydike mitnehmen zu dürfen, und ebensowenig bezaubert er mit seinem Trauergesang die wilden Tiere. Diese beiden Szenen, die für die Macht der Musik stehen, waren ein Lieblingssujet der Bildenden Kunst in Monteverdis Zeit. In der Oper dagegen singt der trauernde Orpheus zwar eine beredte Klage, doch statt dass wie in der Mythologie die Bäume und Blumen, die Tiere und selbst die Felsen gerührt weinen, rührt sich hier – nichts. Nur ein Echo antwortet dem klagenden Sänger und verhöhnt ihn auch noch. Die Oper über das Singen scheint die Sinnlosigkeit des Singens zu demonstrieren, wenn nicht gar die Machtlosigkeit der Musik. 

Es ist Apollo, Gott der Künste und Vater des Orpheus, der diesen Widerspruch auflöst. Die menschlichen Leidenschaften nämlich, denen sich Orpheus singend so exzessiv hingegeben hatte, schaden dem Menschen. Und es ist das Ziel des Lebens, so fährt Apollo fort, sich von extremen Emotionen zu befreien, zu einem Ausgleich zu kommen, sein Schicksal mit Gelassenheit zu ertragen. Während wir heute Opern dafür lieben, dass sie Emotionen exzessiv auf die Bühne bringt, stellt »L’Orfeo« die große Bandbreite von Emotionen vor allem deshalb dar, um uns vor ihnen zu warnen. Apollo nimmt Orpheus mit sich in den Himmel, und beide steigen singend in den Himmel auf: als unsterbliche Seele und gereinigt von allen Leidenschaften. Und so wird der einst so leidenschaftliche Gesang des Orpheus Teil der kosmischen Harmonie, die La Musica zu Beginn der Oper angekündigt hatte.