Interview

Eine Tragödie, als Komödie verkleidet

Gespräch mit dem Dirigenten Paul Agnew und dem Regisseur Rolando Villazón

Jean-Philippe Rameaus »Platée« ist eine ungewöhnliche Oper über eine ungewöhnliche Frauenfigur, die von einem Mann dargestellt wird. Wie kommt Rameau zu dieser Besetzung? Was für eine Figur ist Platée für euch?

Paul Agnew Im Stück ist Platée ein Wesen aus dem Sumpf, ein sehr merkwürdiges Wesen. Dass eine Frauenrolle von einem Mann gesungen wird, ist für das 18. Jahrhundert nicht so ungewöhnlich: Die italienischen Opern der Zeit sind voller Travestie-Rollen, im Shakespeare-Theater waren alle Frauenrollen von Männern gespielt worden, aber in der französischen Oper wirkt es befremdlich. Befremdlich ist auch, was Platée sucht: Sie ist eine Außenseiterin, und der Vorschlag, dass Jupiter sie heiratet, ist für alle anderen offensichtlich absurd. Es ist ein lächerlicher Vorschlag, das wissen alle, auch der Zuschauer. Platée ist die einzige, die das nicht sieht. Sie allein kann an diese Hochzeit glauben, weil sie stolz auf sich ist und mit einem großen Selbstbewusstsein daherkommt.

Rolando Villazón Die Götter langweilen sich, also wollen sie sich einen Spaß mit jemandem machen. Und Menschen, die nicht so sind wie wir, die nicht aussehen wie wir, sich nicht so verhalten, also Außenseiter, sind die perfekten Opfer für so etwas. Das war der Grund für mich, Platée als eine Frau zu zeigen, die im Körper eines Mannes steckt. Sie fühlt sich völlig als Frau, sie hat kein Problem mit sich selbst, aber die anderen haben ein Problem mit ihr. Denn während die anderen sie als Mann wahrnehmen, fühlt sie selbst sich als Frau. Ich war sehr froh, dass Philippe Talbot, der bei uns die Rolle der Platée singt, bei der ersten Probe sofort gesagt hat: Ja, ich spiele in dieser Oper eine Frau. Die zweite Besonderheit an Platée ist: Sie hat Fantasie, und ihre Fantasie passt nicht in die Welt der anderen. Eine solche Fantasie, eine Offenheit, die Welt für sich zu verändern, passt nicht in die normale Welt. Sicher kann man Platée auch als eine abstoßende Figur zeigen, aber das wollte ich nicht. Ich wollte die Geschichte eines Menschen erzählen, der anders ist als die anderen, und mit dem man Sympathie empfindet. Diese Geschichte handelt von Identität und Mobbing: Wenn du dich nicht anpasst, dann bist du der nächste!

Fantasie, so wie du sie beschreibst, hat ja eine ganz große utopische Kraft. Welche Funktion hat Platées Fantasie? Und wie reagiert die Umwelt darauf?

Rolando Villazón Platée hat die Fähigkeit, die Welt durch ihre fast kindliche Fantasie zu verändern. Wenn ich sage kindlich, meine ich nicht, dass sie ein Kind ist. Sie spielt mit ihren Puppen, die sie ihre Nymphen nennt, weil sie sich so eine eigene Welt erschaffen kann, in der sie sich sicher fühlt. Ihre Geschöpfe wissen, dass sie eine Frau ist, die anderen wollen das nicht akzeptieren. Und in der Gesellschaft dieser Wesen, die ja nur Vervielfältigungen ihres eigenen Selbst sind, kann Platée zu einer stolzen und selbstbewussten Frau werden, die manchmal auch arrogant ist. Wenn diese stolze Frau auf die Realität anderer Menschen trifft, dann eckt sie an, und dann erinnert mich Platée mit ihrer Fantasie sehr an Don Quichotte. Es gibt einen Moment im ersten Akt der Oper, wenn Platée gerade erfahren hat, dass Jupiter sie heiraten will. Sie fordert ihre Gefährten auf, aus ihrem Sumpf herauszukommen: »Quittez!«. Dieses »Quittez« bedeutet für mich auch: Kommt raus, zeigt, wer ihr seid!

Wie hast du diese Geschichte aus dem mythologischen Griechenland mit all den allegorischen Figuren und Anspielungen auf die Mythologie ins Heute transportiert?

Rolando Villazón Es ist eine Geschichte über Bullying, Mobbing, darüber, wie Menschen eine Außenseiterin, die anders ist als sie selbst, gnadenlos tyrannisieren. Wir haben diese Geschichte in einem College angesiedelt, weil dort junge Menschen zusammenkommen und ganz schnell diese Hierarchien bilden, die in dem Stück vorkommen. Ganz oben stehen die »coolen« Leute, die Götter, dann kommen Halbgötter, Nymphen …

Paul Agnew Und ganz unten steht Platée!

Die Musik Rameaus steht in der Tradition der französischen Oper und der französischen Barockmusik. Wie erschließt sich diese Musik im Kontext seiner Vorbilder?

Paul Agnew »Platée« ist eine Tragédie-lyrique, verkleidet als Komödie. Die Musik, die Rameau zu »Platée« geschrieben hat, ist typisch französisch, und zugleich übertreibt Rameau in allem, was die Musik ausdrückt. Es ist gewissermaßen eine Musik zweiter Ordnung, eine Musik mit doppeltem Boden. Ein Beispiel: In Rameaus erster Oper »Hippolyte et Aricie« gibt es eine Auftrittsarie der Aricie, die einerseits philosophisch und andererseits ein wenig traurig ist und dabei eine sehr traditionelle Situation der Tragédie-lyrique beschreibt. Die Arie jedoch, mit der Platée sich uns vorstellt, ist ganz anders: Die Musik klingt einfach und unschuldig, aber es ist eine falsche Einfachheit. Wir hören jemanden, der in seiner eigenen Welt glücklich ist, aber diese Welt ist nicht die reale Welt. Wenn dann die Götter auftreten bzw. vom Himmel herabsteigen, hören wir eine ganz andere Musik und merken sofort: Das ist Musik aus einer höfischen Welt, majestätische Musik. Wenn sich Jupiter im zweiten Akt verwandelt, komponiert Rameau sehr stark übertriebene musikalische Bilder, bei denen Jupiters Täuschung viel farbiger ist als die Wirklichkeit. Wir als Interpreten müssen den Unterschied zwischen diesen musikalischen Welten hörbar machen. Und indem wir bei Platées Musik alles ein wenig übertreiben, hört man sofort: Das ist keine höfische Figur, kein Prinz: Aber wer ist es dieser Mensch? – Besonders fasziniert mich die Musik am Ende der Oper. Rameau verwendet den gleichen Chor zweimal: Beim ersten Mal preist der Chor Platée, und der Lobpreis ist geheuchelt; beim zweiten Mal verhöhnt der Chor Platée, und diese Häme ist echt: Rameau hat meisterhaft kalkuliert, wie dieselbe Musik beide Situationen perfekt beschreibt.

Woher kommt diese enge Verbindung von Drama und Musik?

Paul Agnew Rameau war sehr interessiert an den Libretti seiner Opern, und er war berüchtigt dafür, dass er die Texte immer wieder für Änderungen zurückgegeben hat. Er hat nicht weniger an den Libretti mitgearbeitet als später Mozart oder Verdi, und deshalb sind die fertigen Libretti dann alle sehr stark auf das Theater hin konzipiert. Man darf auch nicht vergessen: Rameau ist kein Komponist des Barock mehr, sondern des Zeitalters der Aufklärung und der Entdeckungen. Das war ein radikaler Wechsel des Denkens. Ludwig XIV. war noch ein Gott gewesen, und er wurde als Gott verehrt. Ludwig XV. dagegen war für die Menschen seiner Zeit nur ein Mensch. Und diese Transformation passierte in nur einer Generation. Die Menschen dieser Zeit haben das Fremde entdeckt, etwa durch den Auftritt zweier nordamerikanischer Ureinwohner in einem Pariser Theater, von Rameau direkt in einem Cembalostück, und dann in seiner Oper »Les Indes galantes« verarbeitet. Die Erfahrung »Wir sind nicht allein« ist sehr prägend für das Denken und Fühlen in dieser Epoche.

Rolando Villazón Rameau lebte in einer Zeit, in der zum ersten Mal in großen Debatten die großen Fragen diskutiert wurden. Der Kontakt zu Fremden bedeutet ja auch: Warum ist unsere Wahrheit nicht deren Wahrheit? Wer sind wir, wenn die anderen eine andere Wahrheit, einen anderen Glauben haben? Damit wird auch die christliche Religion in Frage gestellt und gefragt, wie wir uns von den Zwängen und den Schuldgefühlen, all diesen Beschränkungen des Christentums, befreien können. Platée ist fremdartig, aber für wen eigentlich? Von welcher Warte aus? Diese Fragen haben viel mit der Aufklärung zu tun.

»Platée« ist ein Ballet bouffon, eine Tanzoper. Große Teile der Musik sind Tanzmusik, die die Handlung scheinbar unterbricht. Warum gibt es so viel Tanz in diesem Stück, und wie kann eine moderne Aufführung damit umgehen?

Paul Agnew Die Tänze sind sehr typisch für die französische Oper, die unter Ludwig XIV. entstanden ist. Man muss dazu wissen, dass König Ludwig XIV. selbst Tänzer war, und als er zu alt war, um auf professionellem Niveau zu tanzen, entstand die Oper. Aber der König wollte weiterhin Tanz sehen, und sein Hofkapellmeister verband Ballett und Oper, indem er auf einen Opernakt mit Rezitativen und Arien jeweils ein getanztes Divertissement folgen ließ. Zwei Generationen später war Rameau von dieser Struktur frustriert, und er hat die Tänze immer stärker in die Handlung integriert, so dass ein Fluss von Handlung mit Gesang und Tanz entsteht. Der Prolog von »Platée« zum Beispiel beginnt mit Tanz, einer Branle, die immer nur kurz von Gesang unterbrochen wird. Das wäre bei Lully undenkbar gewesen.

Rolando Villazón Es war mir wichtig, dass der Tanz nicht als Einlage die Handlung unterbricht, sondern die Geschichte immer nach vorne treibt. Die Tänzer sind u.a. die Monster, die sich Platée in ihrer Fantasie erschaffen hat, sie sind also in ihrem Kopf. Diese fantastische Ebene ist für mich ganz wichtig, weil sie Platées Verhalten am Ende es Stückes erklärt. Alles in dem Stück läuft auf die letzte Szene zu, dem ungewöhnlich dramatischen Ende einer sehr spielerischen Oper. Paul hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Amour, also die Liebe, im Prolog beleidigt aus dem Stück verschwindet. Wenn sie im dritten Akt wiederkommt, ist es nicht die Liebe, sondern Momus, der Narr der Götter, der sich als Amour verkleidet hat. Das bedeutet: Es gibt keine Liebe in dem Stück, es gibt niemanden, der einen anderen wirklich liebt. Auch Platée liebt Jupiter nicht, sondern sie liebt die Idee, dass Jupiter sie heiratet. Sie sagt das sogar: Liebe oder Ehe, oder eben eines von beiden. Jupiter ist »the top«, der Beste, den man kriegen kann, und Platées Triumph würde darin bestehen, dass sie »es allen zeigt«. Mit Liebe hat das überhaupt nichts zu tun.

Eine der merkwürdigsten Erscheinungen von »Platée« ist der Auftritt von La Folie, dem Wahnsinn, der Verrücktheit, der Narrheit. Sie ist die einzige Figur der Oper, die nicht aus der antiken Mythologie stammt und sie gehört auch nicht zu den Götter und Halbgöttern. Wer ist La Folie, und was bewirkt sie in »Platée«?

PA La Folie ist mehr ein philosophisches Konzept als eine Figur. Aber sie ist zentral für das ganze Stück, und deshalb beginnt auch die Ouvertüre mit der Musik der Folie, die dann im zweiten Akt bei ihrem Auftritt erneut erklingt. La Folies Wesen ist der Wechsel: Es beginnt wie die Musik zu einer Tragödie, aber nur für zwei Takte; dann sind wir in einer Komödie, aber auch nur für zwei Takte. Das sind die beiden Seiten des Schauspiels, das Tragische und das Komische. La Folie ist die Epiphanie des Schauspiels, sie kann ihre Stimmung ständig ändern, sie kann Emotionen wecken, aber sie hat selbst keine. La Folie hat eigentlich keinen Kontakt zu irgend jemanden im Stück, aber dennoch greift sie in das Stück ein.

Rolando Villazón La Folie ist sehr interessant, weil sie die Frage aufwirft: Wer ist denn verrückt in dem Stück? Ist Platée verrückt, weil sie eine Frau im Körper eines Mannes ist? Oder ist die Gesellschaft verrückt, die damit ein Problem hat? Der Wahnsinn, das Ver-rückt-sein, das viel mit Phantasie zu tun hat, ist sehr präsent in »Platée«. Wir zeigen Platée als einen Menschen, der mit Puppen spielt und sich damit eine eigene Welt erschafft. Aber ist sie deshalb verrückt? Oder einfach nur ein Mensch, der beschließt, die Welt anders zu sehen? Wer legt überhaupt fest, was verrückt ist und was »normal« ist? Am Ende merkt man, das ganze Stück ist etwas verrückt … Dieses Verrückte ist ja auch das Moderne an »Platée«. Die Welt der Menschen wird ebenso sehr in Frage gestellt wie die Werte der Götter. Und damit werden auch die Werte der Zuschauer in Frage gestellt. Ich habe eine große Vorliebe für Clowns, weil Clowns aus dem Chaos eine Ordnung machen, aber eben ihre eigene Ordnung, die sich von der »normalen« Ordnung unterscheidet. Auch Platée ist so eine Figur. Sie glaubt wirklich, dass Jupiter sie heiraten wird, und das wäre ihr Triumph, der Hauptgewinn. Dieser Irrtum macht das Stück so unglaublich komisch, aber eben auch so traurig. Wir lachen über Platée, aber das ist ein grausames Lachen. Ich hoffe, dass das Publikum lacht – und dass es merkt, dass es jemanden auslacht.

Die Fragen stellte Kai Wessler