Die neue Zeit

Die neue Zeit

»Die Entführung aus dem Serail« oder europäische Aufklärungsthematik – ein Import aus der Türkei?

Des Kaisers Reformwirken, ein Scheitern

Die Welt war im Wandel: Im Hinblick auf die politische Situation des endenden 18. Jahrhunderts knackte es gewaltig im europäischen Gebälk. Kriege und Revolutionen schrien nach grundlegenden Reformen. Auch im multinationalen Habsburgerreich war dies zu spüren. Das barocke Wien der alten Tage hatte langsam ausgedient, höfisches Festhalten an liebgewonnenen Traditionen und Privilegien verkam zur krampfenden Maske einer Zeit, die die Augen nicht mehr schließen konnte vor den Nöten und Bedürfnissen ganzer Bevölkerungsschichten unterhalb des Adels. Soziale und gesellschaftliche Disbalancen sorgten für Spannungen; insbesondere ausgehend vom aufstrebenden Bürgertum, das am bisherigen politischen Gestaltungsprozess aufgrund der Ständeordnung nicht teilhaben durfte. Allerorten gärte es und so forderte das Zeitalter der Aufklärung seinen Raum. Ganz Europa war geprägt durch eine Bewegung der Säkularisierung, einer Selbstbestimmung des Individuums und einer Abkehr von der absolutistischen hin zur demokratischen Staatsauffassung.

Dies erkannten auch die Herrscher. Ob auf diese Umstände regierend oder aus sich heraus herbeigeführt: Nach seiner Mutter Maria Theresia war es Kaiser Joseph II., der die Habsburger Monarchie reformierte. Für den Potentat des aufgeklärten Absolutismus war das Herrschertum ein Amt, ein Dienst am Staat im Sinne eines übergeordneten Ganzen. »Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk« war der Leitspruch, der dem Kaiser zugeschrieben wurde und der seinen Regierungsstil zutreffend charakterisierte. Joseph II. versuchte, den Einfluss des Adels und des Klerus zurückzudrängen und das Land neu zu strukturieren. Zu seinen ambitionierten Reformen gehören Religionsfreiheit, Abschaffung der Zensur, Ausbau von Wohlfahrtseinrichtungen und eine Vielzahl von Wirtschaftsreformen. Zudem hob er 1781 die Leibeigenschaft auf und schuf Privilegien des Adels vor Gericht ab. Aber die alten Seilschaften zeigten bald ihre Zähne: Josephs II. Reformwerk scheiterte letztlich am offenen und versteckten Widerstand der alten Eliten. Auf dem Sterbebett sah sich der Kaiser gezwungen, zahlreiche Maßnahmen zu widerrufen.

Eine Umgestaltung im Sinne der Aufklärung

Wofür Joseph II. zudem stand, war die deutliche Reduzierung höfischen Prunks und die Einschränkung des Zeremoniells. Mit dieser Entwicklung ging auch die Bedeutung der kaiserlichen Hofkapelle zurück und der Reform-Exponent beschritt neue Pfade, als er 1776 das Burgtheater zum Deutschen Nationaltheater ernannte, um Klüfte zwischen Hof- und Volkstheater zu überwinden und bestehende Ständeschranken einzureißen. Als Werkzeug der Aufklärung sollte das Theater durch die deutsche Sprache allseits verständlich sein und im Sinne einer sittlichen Instanz ein Mittel zur Erziehung des Publikums darstellen. In der Zeit Josephs II. galt Wien als Mittelpunkt des europäischen Musiklebens und zugleich als ein Zentrum der Aufklärung, die hier eine intensive Blüte erlebte.

Beides fügte sich im künstlerischen Schaffen von Wolfgang Amadeus Mozart zusammen. »Die Entführung aus dem Serail«, wie später noch prominenter »Die Zauberflöte«, bringt das vernunftgesteuerte und humanistische Gedankengut der Zeit zum Ausdruck. Zunächst verwunderlich: Ausgerechnet an einer der exotischsten Figuren dieses Singspiels, Bassa Selim, einem Autokraten im Osmanischen Reich, lässt sich dies nachvollziehen. Denn statt für die versuchte Entführung aus seinen Fängen erwartungsgemäß mit blutiger Rache zu reagieren, zeigt sich der Bassa menschlich und demonstriert Verzeihen. Seiner angebeteten, ihn aber ablehnenden Konstanze schenkt er samt Verlobtem Belmonte und Freunden die Freiheit, obwohl er mit Belmonte den Sohn seines ärgsten Feindes in seiner Gewalt hat. Hierbei zeigt sich, wie Mozart und sein Librettist Gottlieb Stephanie d. J. dieses Ende im Vergleich zur Vorlage von Christoph Friedrich Bretzner veränderten – wogegen der Rest des Librettos derart stark kopiert ist, dass das Team heutzutage sicherlich urheberrechtliche Probleme zu fürchten hätte … Das Finale dagegen gestalteten sie signifikant um: Statt einer familiär begründeten Auflösung bei Bretzner, wonach sich Konstanzes Verlobter Belmonte als leiblicher Sohn des Bassa herausstellt und damit aufgrund der »Blutsbande« einer Hinrichtung als Strafe für den Fluchtversuch entgeht, ist es bei Mozart der aufklärerische Geist, der den Bassa despotische Rachegedanken vergessen und ihn stattdessen großmütig handeln lässt – vor allem, ohne daraus einen eigenen Nutzen zu ziehen. Die aufklärerische Vernunft hat gesiegt.

In der Ferne doch so nah

Das Handeln des Bassa erscheint darüber hinaus umso stärker, als dass er als Herrscher über einen undefinierten Landstrich in der muslimischen Türkei die Möglichkeit hat, über europäische Christen zu richten, die selbst einiges dazu beitrugen, um bestehende religiöse Fronten zu verhärten. Doch ein wirklicher Kulturclash findet in diesem Bereich in der »Entführung« gar nicht statt. Denn alle Figuren der Oper kommen, bis auf Osmin, aus Europa – ursprünglich auch der Bassa, ein aus Spanien stammender Christ, der in die Türkei kam und Moslem wurde. Und so zeigt sich am Schluss der Oper, aus dem erhöht eingenommenen europäischen Blickwinkel des 18. Jahrhunderts heraus, dass es nur die Europäer untereinander sind, die ihre aufklärerischen Gedanken verfolgen, final danach handeln und sich damit als ethnische Gruppe stärken. Das Miteinander hat somit etwas Exklusives: Denn ausgeschlossen bleibt der einzige »echte« Repräsentant der fremden Kultur – Osmin. »Eine so kontrastreiche Polarität zwischen den ›guten‹ Europäern und den ›bösen, unchristlichen‹ Türken eignete sich somit außergewöhnlich gut für die Vermittlung moralischer Werte, und nicht zuletzt auch bei Mozart finden sich durch die Figur des Osmin solche Feindbilder.«

Was Daniel Url schreibt, ist in einen konzeptionellen Zusammenhang zu Montesquieus »Lettres persanes« (»Persische Briefe«) aus dem Jahre 1721 zu sehen, worin der Autor die Sitten und Gebräuche sowie die religiösen und politischen Institutionen seines eigenen Heimatlandes – in seinem Fall Frankreich – aus einer distanzierten und kritischen Außensicht betrachtet, um »fremde« Verhältnisse mit den eigenen zu vergleichen. Das strukturell Gleiche geschieht in der »Entführung«, in der vor orientalischer Folie wie von außen betrachtet heimisches Aufklärungsgedankengut verhandelt und zudem das »Wir« mit dem »Ihr« ins Verhältnis gesetzt wird – Exklusion statt international menschliches Miteinander. Und hier zeigt sich der aufklärerische Geist aus der Zeit heraus nicht umfassend, sondern tatsächlich noch beschränkt.

Eine neue Verneigung vor dem Alter

Für den Komponisten Mozart bedeutet die »Entführung« den entscheidenden Schritt in die persönliche wie künstlerische Selbständigkeit. Dieses Werk ist eine optimistische Demonstration seiner eigenen Befreiung aus der als Knebel empfundenen Anstellung beim Salzburger Erzbischof, und zugleich bezieht der Neu-Wiener Stellung für die fortschrittlichen politisch-moralischen Tendenzen dieser Zeit – ein Manifest der Aufklärung.

Sicherlich würde man nicht zu weit gehen, wenn man mutmaßte, Mozarts und Stephanies Wendung der Schlusspointe ins Ethische sei auch bewusst gewählt worden, um ihrem Auftraggeber, dem aufgeklärten Absolutisten Joseph II., ein Denkmal zu setzen. Oder zeigt es bereits mit seiner Errichtung Risse? Man könnte dies annehmen, denn der Sinneswandel des Bassa wird nicht glaubhaft hergeleitet oder eingeführt. Dessen Motivationen zur großen Vergebung bleiben im Dunkeln, denn, so Anselm Gerhard, »die Versöhnung der Feinde ist nicht das Ergebnis diskursiven Aushandelns im Sinne einer letztlich republikanischen Aufklärung. Nein, ganz in der Art der autoritären Reformen von Kaiser Joseph II. wird hier Aufklärung zum absoluten, zum absolutistischen Prinzip.« Und so bekommt die große Geste der Vergebung zu einer Entscheidung, die so willkürlich herbeigeführt ist, wie sie eben nur Kaisern zusteht oder wie es die antiken oder barocken, überraschenden Deus-ex-machina-Schlüsse als göttliche Lösung bewirken. Aus der heutigen Sicht betrachtet drängt sich der Eindruck auf, als habe sich der neue aufklärerische Geist der »Entführung« vor der alten Macht verneigt.

Stefan Ulrich