Wahrheit und Oper

Wahrheit und Oper

»Cavalleria rusticana«, »Pagliacci« und der Verismo

»Was ist Wahrheit?« – Pontius Pilatus’ berühmte Frage, die Nietzsche in ihrer müden Skepsis einmal als den wertvollsten Satz im Neuen Testament bezeichnete, stellt sich in der Operngeschichte alle 100 Jahre wieder. Natürlich wollen Opernkomponisten seit Monteverdi immer die Wahrheit zeigen, zumindest wahrhaftig sein. Zugleich bewegen sie sich in einer höchst artifiziellen Form, die bekanntlich die Darsteller dazu zwingt, Gespräche, Gedanken und Gefühle zu singen. Ein Widerspruch, der je nach Epoche unterschiedlich aufgelöst wird. In Italien stellte sich die Frage nach der Opern-Wahrheit im 19. Jahrhundert recht spät. Lange hatte man den Gleichklang von Musik und landeseigenem Temperament in Nummernopern gefeiert, die sich um Wahrscheinlichkeiten nicht groß scherten und lieber dem Sänger Gelegenheit gaben, seine Kunstfertigkeit zu zeigen. Diese unbekümmerte, fest in der Tradition verwurzelte Haltung wurde problematisch, als die neuartigen Musikdramen Wagners über die Alpen kamen. Die italienische Oper geriet in die Defensive. Sie wirkte plötzlich altmodisch, leichtfertig, naiv. Die italienischen Komponisten wollten und konnten keine Wagner-Epigonen werden, aber sie mussten doch aufs Neue nach der Wahrheit ihrer Kunst suchen. In Verdi hatte man einen Ausgangspunkt, aber wie konnte man über ihn hinauskommen? Das Ergebnis war der Verismo, den man wörtlich als »Wahrheitismus« übersetzen könnte.

Spiel und Wahrheit

Ruggero Leoncavallo lässt im Prolog seiner Oper »Pagliacci« eine Art Manifest dieser neuen Ästhetik vortragen. Der Autor versuche, »ein Stück Leben zu schildern«, singt dort Tonio, der später im Stück als buckliger Narr auftritt. »Für ihn gilt nur, dass der Künstler Mensch ist und dass er für Menschen schreiben muss, dass die Wahrheit ihn inspiriere. Einst regte sich tief in seinem Herzen die Erinnerung an ein Erlebnis, und mit wahren Tränen schrieb er’s auf, und die Seufzer klopften ihm den Takt!« Es geht also um ein Erlebnis aus der Vergangenheit des Komponisten, es geht um echte Gefühle – in der Bühnendarstellung wie auch beim Schreiben der Partitur. Zugleich thematisiert das Stück auf raffinierte Weise die Unmöglichkeit einer solchen Wahrhaftigkeit, denn der Sänger singt ja, wie er selbst zugibt, nicht seine eigenen Worte, sondern die seines Autors. Genaugenommen zeigt »Pagliacci«, wie aus Wahrheit ein Spiel und aus Spiel schließlich wieder Wahrheit wird. Und auch Leoncavallo persönlich nahm es nicht immer so genau. Man wies ihm nach, dass der Mordfall, den er in seiner Kindheit erlebte, nur entfernte Ähnlichkeiten mit dem seines Librettos hatte – während die Ähnlichkeit mit dem Stück »La Femme de tabarin« von Catulle Mendès so groß war, dass dieser einen Plagiatsprozess anstrengte.

Ein realistischer Blick auf die Welt

Die Grenzen zur Wahrheit sind fließend, auch im Verismo. Aber ein frischer, realistischer Blick auf die Welt zeigte sich doch in dieser neuen Opernschule. Einfache Leute statt Helden und Götter, soziale Realität statt poetischer Verklärung: Das Publikum war elektrisiert. Den Anfang machte Pietro Mascagni mit »Cavalleria rusticana«. Der Erstling des bis dahin unbekannten Komponisten hatte 1890 einen Kompositionswettbewerb des Mailänder Musikverlegers Sonzogno für Einakter gewonnen und wurde sofort in aller Welt nachgespielt. »Es war, als ob sich plötzlich in einem geschlossenen Raum die Tür sperrangelweit öffnete«, schrieb der Musikhistoriker Guido Pannain fünfzig Jahre später. »Ein frischer Windstoß, der den Duft der Felder mitbrachte, fegte den Modergeruch hinweg, der begonnen hatte, sich auszubreiten.« Der 26-jährige Komponist, Sohn eines Bäckers aus Livorno, war mit einem Male berühmt. Ruggero Leoncavallos von diesem Erfolg angeregtes Stück, ebenfalls für Mailand geschrieben, erlebte zwei Jahre später einen ähnlich triumphalen Siegeszug. Schon im Folgejahr wurde »Pagliacci« in Wien, Prag, Basel, Budapest, London, New York, Buenos Aires, Mexico City und Moskau nachgespielt.

»Cavalleria rusticana« und »Pagliacci«

Da beide Opern zu kurz für den normalen Theatergebrauch waren, wurden sie bald schon gewohnheitsmäßig an einem Abend gegeben. Mehr noch: Sie verschmolzen für das Publikum beinahe zu einem Werk – trotz bedeutender Unterschiede. Denn während Mascagni tatsächlich die Kraft elementarer Leidenschaften in einer urtümlichen Gesellschaft zeigt, so geht es Leoncavallo ebenso sehr um die eher spätbürgerliche Frage, wann wir authentisch sind und wann nicht. Die interessantere dramatische Konstruktion baut sicherlich Leoncavallo: Er lässt einen Protagonisten zunächst scheinbar privat auftreten und die Absichten des Autors erklären, bevor er in die Opernhandlung eintauchen darf, in der er wiederum einen Schauspieler spielt, der eine Rolle in einem Stück spielt, in dem die Darsteller schließlich »aus der Rolle fallen« – ein wahres Spiegelkabinett der Erzählebenen. Die originärere Musik schreibt dagegen Mascagni, der französische und italienische Einflüsse verschmilzt und mit heftigen Melodiebögen und ruppiger Instrumentation eine erstaunliche emotionale Direktheit erreicht. So unterscheiden sich die Stücke trotz vieler offenkundiger Gemeinsamkeiten. Beide gaben jedoch auf ihre Art eine kraftvolle Antwort auf die Frage, die Wagners Ästhetik an die italienische Oper gestellt hatte. Auch der anfangs zitierte Nietzsche entwickelte sich in diesen Jahren von einem Wagnerianer zu einem Bewunderer der Musik des Mittelmeerraumes. In Wagner sah er zunehmend nur noch den Décadent, der seine eigene Schwäche verherrlicht. In Bizets »Carmen« fand er dagegen die Logik der Leidenschaft und die harte Notwendigkeit, die er suchte. »Hier redet eine andere Sinnlichkeit«, schrieb er 1888, »eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon.« Erklären diese Worte nicht auch das Geheimnis der beiden unzertrennlichen Geschwister-Opern aus Italien? Endlich gehe es, fährt der Philosoph fort, in einer Oper wieder einmal um die Liebe als Naturgewalt: »Nicht die Liebe einer ›höheren Jungfrau‹! Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist!«

Jan Dvořák