Ballettmusik
Zur Ballettmusik im 19. Jahrhundert
Ballettmusik des 19. Jahrhunderts besitzt heute im Allgemeinen ein recht negatives Image, das vor allem aus dem Anlegen falscher Maßstäbe an sie resultiert: Mit der Verklärung des Komponisten zum Genie im späten 19. Jahrhundert wurden ästhetische Kriterien aufgestellt und angewendet, die der Wirklichkeit der Komponisten im frühen und mittleren 19. Jahrhundert, übrigens auch der der Opernkomponisten, und ihrer Einbindung in den Theaterproduktionsprozess nicht entsprechen. Insbesondere zwei Charakteristika der Ballettmusik des 19. Jahrhunderts konnten diesen neuen ästhetischen Ansprüchen nicht standhalten: Zum einen – und damit teilt sie das Schicksal von Filmmusik – die Zweckgebundenheit, und zum anderen – zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – der Mangel an Originalität. Für die meisten Komponisten des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts war Ballettmusik eher eine Gelegenheit, bekannt zu werden und dadurch möglicherweise einen Auftrag für eine prestigeträchtige Oper zu erhalten, als dass sie ihr eine große künstlerische Bedeutung zumaßen. Die Musik wurde vor allem als Dienerin des Tanzes angesehen, mit dem sie nicht um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen sollte. Daher brachten die Komponisten in sie nur eine begrenzte Kreativität ein, zumal sie sich im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts in ihren Ballettpartituren zunächst vorwiegend als Arrangeure bereits existierender und bekannter Melodien und Musikstücke betätigten. Entsprechend finden sich auf den Programmzetteln dieser Zeit auch oft nur Hinweise wie »Die Musik ist von verschiedenen Meistern« oder »Die Musik ist komponiert und arrangiert von...«.
Mit dieser Praxis, bekannte Melodien aus Opern im Ballett zu verwenden, halfen die Komponisten dem Publikum, die Handlung der oft langen pantomimischen Passagen eines Balletts nachzuvollziehen: Frei nach dem Motto »Erkennen Sie die Melodie?« wurden Melodien – »Airs parlants«, also »sprechende Melodien« genannt – aus Opern an den Stellen der Balletthandlung zitiert, an denen die ihnen zugehörigen Worte inhaltlich passten. Ferdinand Hérold z.B. benutzte 1828 für »La fille mal gardée« u.a. Rossinis Sturmmusik aus »La Cenerentola« für eine entsprechende Szene im Ballett sowie den Eröffnungschor aus dessen »Barbier« (»Piano, pianissimo«) bei Lises Auftritt auf Zehenspitzen, die ihre Mutter nicht wecken will. Um 1830 setzte jedoch langsam ein ästhetischer Wandel ein und von den Komponisten wurde mehr kompositorische Originalität erwartet. Um auch ohne »Airs parlants« – die ja, um den gewünschten Effekt zu haben, eine intime Kenntnis der Opernliteratur seitens des Publikums voraussetzten – das Verständnis des Inhalts musikalisch zu unterstützen, bauten die Komponisten Erinnerungsmotive an exponierten Stellen der Handlung ein und wiederholten sie in inhaltlich passenden Momenten. Somit sorgten sie auch für einen größeren musikalischen Zusammenhalt der Partitur. Das prominenteste Beispiel für dieses neue Verfahren ist sicherlich Adolphe Adams »Giselle« (1841), wenn auch Jacques François Fromental Halévys Ballett »Manon Lescaut« (1830) als erstes Werk gilt, in dem diese Erinnerungsmelodien (neben den »Airs parlants«) Anwendung finden. Doch diese kompositorische »Hilfestellung« für das Publikum erreichte nie die gleiche Deutlichkeit wie die »Airs parlants«; in der Jahrhundertmitte begannen die Komponisten dann allmählich, sich von solchen Vorgaben, den Inhalt zu erhellen, zu lösen und musikalisch freier zu arbeiten.
Der sicherlich dominierende Choreograf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Marius Petipa, seit 1862 Ballettmeister und später Erster Ballettmeister der Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg. Er arbeitet dort vor allem mit zwei Komponisten zusammen: dem ungeheuer produktiven Cesare Pugni (1802–1870), dessen Musik heute noch gelegentlich bei Ballett-Galas erklingt, und dessen Nachfolger als angestellter Ballettkomponist Ludwig Minkus (1826–1917), dem Schöpfer von Balletten wie »Don Quichote« (1869) und »La Bayadère« (1877). Die Komposition der Musik für die oft großangelegten Ballette erforderte nun, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Spezialistentum, in dem sich handwerkliches kompositorisches Können und überbordende musikalische Kreativität mit genauer Kenntnis der tänzerischen und choreografischen Abläufe paarten.


Der Komponist war in den täglichen Probenprozess im Ballettsaal eng eingebunden und musste nicht nur den Vorstellungen des Ballettmeisters und seinem genau geplanten Ablauf des Balletts folgen, sondern er musste auch fähig sein, seine Musik während der Proben immer wieder zu revidieren und neue Wünsche und Änderungen zu berücksichtigen. Zudem musste die Musik den verschiedenen Teilen eines Balletts entsprechen und so mit kleinteiligem, gestischem Charakter die pantomimischen Passagen lebendig machen, rhythmisch und melodisch die zum Teil großangelegten Solo- und Gruppentänze stützen und insgesamt die Atmosphäre der Bilder evozieren helfen. Wenn auch die Musik der Minkus’schen Ballette in der Orchestrierung eine vielleicht aus Minkus’ eigener Biografie als Violinist begründeten Vorliebe für Geigen zeigt sowie im Rhythmus eine Präferenz des Dreivierteltakts, so zeichnet sich Minkus’ Ballettmusik insgesamt durch eine großartige Fülle von Melodien und einen rhythmischen Schwung aus, der, wie der Ballettspezialist und -dirigent John Lanchbery anmerkte, auch manch einen unbeholfenen Zuschauer den unbedingten Wunsch verspüren lasse zu tanzen.
Als der Direktor der Kaiserlichen Theater Iwan Wsewoloschkij 1886 den Posten des angestellten Ballettkomponisten abschaffte, setzt er ein deutliches Zeichen. Komponisten wie Pjotr I. Tschaikowsky und Alexander Glasunow verliehen in ihren Kompositionen für das Ballett der Musik eine neue musikalische Qualität und brachten ein stärkeres künstlerisches Gewicht der Komponisten in die Zusammenarbeit mit den Choreografen ein, was nur wenige Jahrzehnte später durch Sergej Diaghilew und seine Ballets Russes in eine Emanzipation der Ballettmusik mündete: Der russische Impresario vergab Kompositionsaufträge unter der Prämisse der Gleichberechtigung der Künste, arbeitete mit der Avantgarde der Komponisten zusammen (Ravel, Debussy, de Falla, Poulenc, Milhaud, Prokofjew, Strawinsky u.a.) und gewährte ihnen große Freiheiten. Komponist und Choreograf wurden gleichberechtigte Partner – die Ballettmusik war in der Moderne angekommen.
Der Text von Frank-Rüdiger Berger stammt aus dem Programmheft »La Bayadère«.
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