Regiekonzept

»Held ohne Vater«

Regisseur Willy Decker zur Inszenierungskonzeption

Wagners »Siegfried« beginnt wie ein mühsames Aufwachen in einem dunklen Raum, ein fragendes, hilfloses Blinzeln an der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit. Wo bin ich? ... Lebe ich noch? ... Die Partitur formuliert in den ersten Takten eine Frage, die, mehrmals wiederholt, in die Leere klingt: Wo ist der Ring? Wo sind die Wesen, die um den Ring gekämpft haben? Geht die Geschichte weiter? Wo stehen wir? Hier in der Mitte der Ring-Erzählung gibt es mehr Fragen als Antworten. Für Wagner selbst wurden während der Arbeit am »Siegfried« die Fragen immer drängender: offene, bedrückende Fragen, auf die Wagner zunehmend weniger Antworten hatte.

Alptraumhafte, tödliche Ruhe

Über Wotans Welttheater liegt Stille, die tödliche Ruhe des verlassenen Schlachtfelds nach dem Scheitern eines großen Planes: Nichts geschieht, die Welt liegt in der Erstarrung eines bewusstlosen Schlafs. Die einzige Bewegung ist das Herumwälzen des dummen Drachen, der sinnlos und schwer auf seinem Goldschatz schnarcht. So präsentiert sich uns das Vorspiel zu »Siegfried«. Am Ende der »Walküre« ist Wotans Reich zerbrochen, die Figuren des »Ring«-Theaters versprengt, in alle Winde zerstreut, auseinandergelaufen: Ergebnis eines verlorenen Krieges, den der Gott gegen alles Hemmende und Veraltete kämpfen wollte und an dessen Ende er sich selbst besiegte, indem er Siegmund mit dem eigenen Speer zerstörte, dem Symbol seines ungebrochenen Machtwillens. Wenn sich über »Siegfried« der Vorhang hebt, herrscht eine ähnliche Ruhe wie am Beginn von »Das Rheingold«. Aber es ist nicht die heitere, unschuldige, urharmonische Ruhe aus der Kindheit der Welt, sondern die alptraumhafte, tödliche Ruhe des Scheiterns, der Erschöpftheit und Ratlosigkeit. Alles schläft: Fafner auf seinem Gold, Brünnhilde auf ihrem Felsen, Mime wälzt sich in den Alpträumen des eigenen Versagens. Nur Wotan wacht, unruhig, einsam, unfähig und unwillig, das eigene Scheitern endgültig zu akzeptieren. Er muss das festgefahrene Rad des Welttheaterkarrens wieder anstoßen. Für Siegfrieds Auftritt schlägt er die Bühne wieder auf. Er hat die Kulissen gesetzt, ins Licht getaucht, alle äußeren Bedingungen für Siegfrieds Existenz vorbestimmt und erschaffen. Mime füllt den Knaben nun mit innerem Leben, indem er ihm, sorgfältig gefiltert, Begriffe, Ideen, ein streng eingeengtes Wissen eintrichtert, wobei das Wichtigere eigentlich das ist, was er ihm nicht beibringt. 

Missglückte Erziehung zum »neuen Menschen«

So hängt Siegfried wie eine tragikomische Marionette an den Fäden des Puppenspielers Wotan und wird an seinen Puppenbeinen von Mime gewaltsam nach unten auf die Erde gezogen. Vielleicht ist Siegfrieds größtes Problem und der Grund seines tragischen Scheiterns die Tatsache, dass sowohl Mime als auch Wotan ihm seine Vergangenheit vorenthalten. Er darf von der Vergangenheit nichts lernen, darf keine Vorbilder haben. Das ist es, was ihn verwundbar macht. Mit diesem erzwungenen Unwissen zerschellt er an der Wirklichkeit. Siegfrieds Selbstfindung missglückt, weil er ohne den Prozess von Emanzipation und bewusster Überwindung des Vergangenen, sozusagen durch Überspringen der Pubertät, zum Menschen, gar zu einem ganz neuen Menschen werden soll.

Die Geschichte von Siegfrieds Kindheit zeigt Parallelen zur Erziehungsidee in totalitären Systemen auf: von Eltern getrennt, ohne familiäre Identität, auf das Funktionieren innerhalb einer übergeordneten Idee hin heranzuwachsen. Diese Idee heißt hier: »Werde stark und töte den Drachen«. Nur das soll nach Mimes Willen der einzige Sinn und Zweck von Siegfrieds Leben sein. Danach kann man »dem Kind den Kopf abhau’n«. Auch Wotan will, dass Siegfried ohne Wissen um seine Vergangenheit, ohne Bindung an Familie und Wertsysteme heranwächst, um vielleicht seine große Idee doch noch zu verwirklichen. Die Überschrift lautet hier: »Werde stark und befreie die Welt vom Fluch des Rings«. Doch beide Ersatzväter Siegfrieds – Wotan und Mime – scheitern mit ihrem Erziehungsprojekt. Siegfried wächst ohne Liebe auf, eingehüllt in die tückische Scheinliebe Mimes. Sein selbsternannter Zwergenvater kann ihn nicht lieben und sein wirklicher, verborgener Göttervater Wotan darf ihn nicht lieben. Seit Wotan weiß, dass Siegfried nur zum neuen Heiden heranreifen kann, wenn er »nichts von mir weiß«, muss er sich jede tätige Liebe zum ersehnten Enkel versagen. Dieses Fehlen von Liebe ist der große taktische Fehler, das schwarze Loch, der tragische Irrtum im großen Erziehungsplan der ungleichen Väter Siegfrieds. Sehnsucht und Verlangen nach Liebe werden so übergroß, dass der junge Held auf dem Weg zum einzig möglichen Liebesobjekt die beiden Väter kurzerhand aus dem Weg räumt: den einen tötet er, den anderen schlägt er in Stücke. Der Wanderer muss ihm den Weg freigeben, der den geliebten, rebellischen Enkel zur geliebten abtrünnigen Tochter führen soll. Damit geschieht aber genau das, »was Wotan will!« und wogegen sich sein verborgener, nur scheinbar geläuterter Machtwille im letzten Moment noch einmal verzweifelt aufbäumt.

Das ungekürzte Essay finden Sie im Programmheft der Produktion