Über die Tiefen des Menschlichen
Evgeny Titov im Porträt
Wir Menschen sind fasziniert von der Tiefe: die Weiten des Weltalls, die Abgründe der Meere. Nur fünf Prozent der Tiefsee sollen bislang erforscht sein. Der Rest liegt noch im Dunkeln. Wie tief können wir in unserer Psyche bohren? Geht es da immer weiter, wann stoßen wir auf die irrationalen, nicht kausalen Zusammenhänge in uns? Während um die vorletzte Jahrhundertwende Sigmund Freud das Tor zum Unbewussten weit öffnet, bespricht der Expressionist Wassily Kandinsky in seiner berühmten Studie Über das Geistige in der Kunst die Mehrdeutigkeit der Sprache: „Das Wort, welches also zwei Bedeutungen hat – die erste direkte und die zweite innere –, ist das reine Material der Dichtung und der Literatur.“ Unter jeder Oberfläche liegt ein ganzer See an Bedeutungen. Diese Doppeldeutigkeit ist der Grundstein für Evgeny Titovs Verständnis von Theater.
„Im Theater machen wir Erfahrungen.
Theater lässt uns in die Abgründe des Menschen schauen.“
Der in Kasachstan geborene Regisseur beleuchtet in seinen Inszenierungen die Komplexität des Unbewussten im Menschen, und macht dadurch das Unsichtbare sichtbar. Er versucht, so tief wie möglich in die Psyche vorzudringen und legt dadurch ein Kaleidoskop an Gefühlszuständen frei, das zu einem Merkmal seiner Interpretationen wurde. Vielleicht liegt das nicht zuletzt daran, dass der ausgebildete Schauspieler die Intensität der gespielten Emotionen auf Theaterbühnen selbst kennengelernt hat. Doch im Verlauf seiner jungen Karriere entschied er sich, die Seiten zu wechseln, studierte am Max Reinhardt Seminar in Wien Regie, und schloss es 2016 ab – übrigens ist er seit dem gleichen Jahr auch als Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin tätig. Noch im Studium entwickelte er zusammen mit anderen Schauspielstudierenden des Max Reinhardt Seminars erste Arbeiten, die für Bewunderung sorgten – u. a. Das Schlangennest von Copi, das als Gastspiel am Wiener Burgtheater zu sehen war, und Die Heirat von Nikolai Gogol, das zum Körber Studio für Junge Regie am Thalia Theater Hamburg eingeladen wurde. Dies war der Beginn einer steilen Karriere, die Inszenierungen an den wichtigsten deutschsprachigen Theaterbühnen beinhaltet, wie seine hochgelobte Lesart von Arthur Millers Hexenjagd am Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Theaterstück Gier unter Ulmen von Eugene O’Neill am Münchner Residenztheater, das als eine explosive Symbiose von Begehren und Gewalt gelesen werden kann, und die Uraufführung von Martin Heckmanns Mein Herz ist rein am Staatsschauspiel Dresden. Im Sommer 2019 sprang er fünf Wochen vor Probenbeginn für die erkrankte Mateja Koležnik bei den Salzburger Festspielen ein und erarbeitete mit einem fertigen Bühnenbild „eine bis ins Detail präzise, dem Stoff und seinen Darstellern innig zugewandte Interpretation von Gorkis prärevolutionärem Konversationsstück Sommergäste“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Mitten in der Corona-Pandemie folgte 2020 seine erste Opernproduktion am Hessischen Staatstheater Wiesbaden mit Dmitri Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk. Die Umstände der Proben mitten in einer Pandemie waren eine Herausforderung und dennoch ist sein Operndebüt geglückt. Ingrid Freiberg schrieb darüber: „Titov profiliert sich als detailgenauer Porträtist der menschlichen Niederträchtigkeit.“ Unterdessen ist der gefragte Regisseur zu Gast an Opernhäusern wie der Komischen Oper Berlin (Oedipe von George Enescu) oder der Opéra national du Rhin (L’incoronazione di Poppea von Claudio Monteverdi). Mit seiner Inszenierung von George Benjamins Lessons in Love and Violence 2023 am Opernhaus Zürich blickte er „in die dunklen Abgründe entfesselter Liebe“, und mit Le nozze di Figaro an der Bayerischen Staatsoper zeigte sich Titov von seiner komödiantischen Seite. Evgeny Titov interessiert sich immer mehr für die Welt des Musiktheaters. Er selbst meint dazu: „Arthur Schopenhauer hat gesagt: ‚Wie die Musik zu werden, ist das Ziel jeder Kunst.‘ Er sieht also Musik als höchste Kunst. Deswegen berührt sie uns so sehr. Wenn Musiktheater gut gemacht ist, wird man mit einer ganz anderen Kraft konfrontiert, die man im Schauspiel gar nicht so erzeugen kann.“
Man darf durchaus gespannt sein, wie Evgeny Titov mit Sergej Prokofjews Die Liebe zu den drei Orangen umgehen wird. Das Werk nach dem gleichnamigen Theaterstück von Carlo Gozzi ermöglicht uns bei allem Heiteren, Absurden und Skurrilen an der Oberfläche auch einen Blick in die Abgründe des Menschen. Die Reise nach Innen steht im Vordergrund von Titovs Lesart, versteht er doch das Theater nicht als Ort, „der uns Antworten auf Fragen gibt. Im Theater machen wir Erfahrungen. Theater lässt uns in die Abgründe des Menschen schauen. Es führt uns an die dunklen Orte der Triebe, des Irrationalen und des Unbewussten.“