„Humor ist vielleicht das Letzte, was uns retten kann“

Kinsun Chan ist der neue Direktor des Semperoper Ballett. Gemeinsam mit Choreograf und Bühnenbildner Martin Zimmermann bringt er eine außergewöhnliche Kreation auf die Bühne: Wonderful World. Und die Frage: Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn sie aus dem Gleichgewicht gerät?

Kinsun Chan, Sie übernehmen ab dieser Spielzeit die Leitung des Semperoper Ballett. Worauf freuen Sie sich besonders?

Kinsun Chan: Auf die Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern sowie dem Team des Semperoper Ballett, darauf, mit ihnen im Studio zu arbeiten und zu sehen, wie sie durch neue künstlerische Herausforderungen aufblühen und sich entwickeln. Ich kann es kaum erwarten, auf die Bühnen unserer Semperoper und des Staatsschauspiels zu gehen, mit den ersten Beleuchtungsproben zu beginnen und zu sehen, wie unsere neuen Produktionen zum Leben erwachen.

Die erste Produktion in Dresden wird Wonderful World sein, die Sie gemeinsam mit Martin Zimmermann zur Eröffnung des Schweizer Steps-Festivals entwickelt haben. Darin geht es um den Umgang des Einzelnen mit Extremsituationen. Wie blicken Sie jetzt, zwei Jahre später, darauf?

Chan: Wonderful World wurde im April 2022 uraufgeführt, aber Martin und ich haben schon über ein Jahr vorher mit der Planung und Diskussion über das Werk begonnen. Gerade als wir das Stück auf die Bühne bringen wollten, überfiel Russland im Februar die Ukraine. Wir waren erstaunt, wie plötzlich Parallelen zwischen der Weltlage und unserer Kreation entstanden sind. Heute sind sie noch aktueller geworden.

Martin Zimmermann: Schon vor der Pandemie und dem Krieg hatte die Welt eine ganze Reihe von Problemen, die die Gesellschaft ins Wanken gebracht haben: die Globalisierung, der Klimawandel, die Tendenz zum Extremismus in verschiedenen Formen. Wir scheinen auf eine große Veränderung zuzusteuern oder uns schon mittendrin zu befinden.

Apropos „ins Wanken bringen“: Die Bühne ist instabil und droht durch die kleinsten Bewegungen der Tänzer*innen zu kippen.

Zimmermann: Eine Extremsituation in Bühnenform! Die Tänzerinnen und Tänzer riskieren mit jedem Schritt Kopf und Kragen und suchen dennoch unermüdlich ihren Weg durch das Geschehen. Der Reiz der Herausforderung gewinnt und lässt das gefährliche Gleichgewichtsspiel immer wieder von vorne beginnen, mit dem Risiko, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Chan: Das Bühnenbild von Martin ist ein integraler Bestandteil des Stücks, der die Körpersprache beeinflusst und den Dialog der Choreografie und Inszenierung mit dem Publikum verstärkt. Es bringt den Kern unseres Stückes auf den Punkt: Was passiert mit der Gesellschaft, wenn sie aus dem Gleichgewicht gerät?

Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen?

Chan: Martin und ich sind seit Langem befreundet und wir wussten, dass unser gemeinsames Schaffen ein Risiko für unsere Beziehung hätte sein können. Stattdessen sind wir noch enger zusammengewachsen. Unsere Arbeit ist sehr organisch und voll von kreativem Austausch und Entdeckungen. Für mich war es wunderbar, die Chance zu haben, seine Perspektive einzunehmen und zu erfahren, wie er die Welt sieht.

Zimmermann: Ich komme ursprünglich aus der Zirkuskunst, von der Familie Frederico Fellini, Charlie Chaplin, Buster Keaton, Karl Valentin, Grock. Mein Kerngeschäft ist die Erfindung von tragisch-komischen Figuren. Für mich sind es Clowns von heute, wie du und ich und alle um uns herum. Dabei ist die Silhouette der essenziellste Aspekt. Für unser Stück haben wir für alle Figuren eine spezielle Silhouette erarbeitet, denn in dieser wird uns auf den ersten Blick alles über den Charakter erzählt, sie verrät uns, mit wem wir es zu tun haben. Es war ein wichtiges Element für unsere Zusammenarbeit.

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Chan: Bei den ersten Proben haben wir gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern festgelegt, welche Charaktere sie auf der Bühne darstellen werden. Dabei war uns wichtig, dass jeder seine eigene individuelle Figur entwickelt. Davon ausgehend haben wir ihre Kostüme erarbeitet.

Zimmermann: Es geht in dieser Produktion immer auch um das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, dem Einzelnen und der Masse. Wir kreieren eine Art Bilder-Gedicht in Bewegung, ein poème en mouvement.

Bis irgendwann der Moment des Umbruchs, der Dystopie kommt.

Zimmermann: Ausgehend vom persönlichen Balanceakt der verschiedenen Figuren wächst das Chaos auf der Bühne: Immer mehr Gestalten kommen hinzu, während einzelne in der Menschenmasse zu verschwinden drohen. Der Kampf beginnt. Wo greifen hierarchische Strukturen und wann dominiert der solidarische Anteil? Ein Ruck in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, es ist eine Karikatur einer globalisierten Diktatur, bei der das Extrem herrscht und Freiheiten nicht mehr erlaubt sind. Neben den Tänzerinnen und Tänzern werden mehrere lebensgroße Puppen Teil des Geschehens sein, sodass sich dem Publikum immer wieder die Frage stellt, wer nun wessen Marionette ist.

Bei so einer ernsten Thematik: Bleibt da noch Raum für Humor?

Chan: Martin und ich glauben beide, dass Humor die beste Waffe ist, die wir haben.

Zimmermann: Absolut! Wir sind alle komische Wesen, die in dieser Welt überleben wollen. Alle suchen einen Weg, aber jeder ist irgendwie absurd und widersinnig. Für uns ist Humor das einzige Ventil, mit den Problemen und Sorgen, die die Welt bereithält, umzugehen. Humor kann ein wahnsinnig starkes Mittel der Kommunikation sein, man kann mit Cleverness Themen unterwandern, Missstände aufzeigen, Kritik üben und Fremdes näherbringen. Humor ist vielleicht das Letzte, was uns retten kann. Darin liegt viel Hoffnung, die wir auch Wonderful World mitgeben wollten.

Bei diesem Titel hat man natürlich sofort Louis Armstrongs What a wonderful world im Ohr. Welche Musik haben Sie für Ihren Abend ausgewählt und warum?

Chan: Die Musik wurde von den beiden Schweizern Daniel Steffen und Hans- Peter Pfammatter komponiert. Es sind zwei Künstler, mit denen ich schon seit einiger Zeit zusammenarbeite. Sie haben für uns eine ganz eigene reichhaltige Klanglandschaft und Atmosphäre geschaffen. Aber das bedeutet nicht, dass Mister Louis Armstrong nicht auch an irgendeinem Punkt der Produktion ins Spiel kommt. (lacht)

Am Ende bleibt also etwas von dem lebensbejahenden Impetus Armstrongs. Wie würde denn Ihre persönliche Wonderful World aussehen?

Chan: Eine Feier der Einzigartigkeit und Individualität jedes Lebewesens mit Offenheit, Dialog und Respekt.

Zimmermann: Eine Gesellschaft, die ihre Geschichte nicht mehr wahrnimmt, ist in der Lage, sich zu wiederholen. Bildung, Kultur und Humor sind für mich der Sockel der Menschheit. Wenn jeder über sich selbst lachen kann, dann kann er sein Gegenüber besser wahrnehmen und in einen Dialog treten. Ich freue mich riesig auf den Dialog zwischen dem Dresdner Publikum und Wonderful World!


Interview
Dorothee Harpain ist Dramaturgin an der Semperoper Dresden.