„Tanz ist das Kommunizieren von Gefühl.“
Über das Choreografie-Duo Imre und Marne van Opstal

Imre und Marne van Opstal © Hugo Thomassen
In der Welt des zeitgenössischen Tanzes gibt es einige Namen, die eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Marne (33) und Imre van Opstal (34) gehören zweifellos in diese Reihe von Choreograf*innen. Das niederländische Duo – zugleich Bruder und Schwester – hat das Interesse des internationalen Publikums mit seiner außergewöhnlichen Zusammenarbeit auf sich ziehen können. Die beiden entwickeln Tanzstücke, die emotional berühren und intellektuell inspirieren.
Marne und Imre van Opstal erzählen, dass Tanz von jeher Teil ihres Lebens war. Und das ist nicht zufällig: Bruder und Schwester, die aus dem limburgischen Velden kommen, wuchsen in einer künstlerischen Tanzfamilie auf. Nach ihrem Studium an verschiedenen Tanzakademien begannen Marne und Imre ihre Karrieren als professionelle Tänzer*innen und arbeiteten mit einigen der renommiertesten Choreograf*innen und Companies der Welt. Ihr individueller Erfolg war beeindruckend, wurde aber noch größer, als die beiden mit dem Choreografieren begannen. Er führte das Duo 2020 zu dem Entschluss, mit dem Tanzen aufzuhören und choreografisch zusammenzuarbeiten.
Imre erzählt: „Wir kamen als kleine Kinder ganz spielend in Berührung mit Tanz. Letztendlich haben wir beide die Wahl getroffen, uns auch professionell auf Tanz konzentrieren zu wollen. Und jetzt sind wir hier.“ Aber wie kamen die beiden „hierher“, an die Spitze der Niederlande? „Natürlich hat es mit Talent zu tun, aber sicher auch mit Disziplin,“ sagt Imre. Marne fügt etwas Essentielles hinzu: „Das Wichtigste ist, wie gern wir dies machen. Tanz ist für uns beide etwas sehr Persönliches, ganz eng mit unserem Leben verwoben. Tanz ist Teil dessen, wer wir sind.“
Was Marne und Imre van Opstal von anderen unterscheidet – sowohl als Tänzer*in als auch als Choreograf*in – ist ihre Authentizität und Chemie. Choreografieren ist ein Prozess, etwas, das sie immer gemeinsam machen – schon von Kind auf. „Wir waren in der weiterführenden Schule in derselben Klasse und absolvierten eine Art tänzerische Früherziehung“, erzählt Marne. „Da bekamen wir als Hausaufgabe manchmal den Auftrag, mit jemand anderem zusammen etwas zu erschaffen. Es war bei uns selbstverständlich, dass wir das zusammen machen würden.“ Imre lacht: „So mussten wir wenigstens nicht zu jemand anderes nach Hause und konnten das in unserem eigenen Wohnzimmer machen. So einfach war es.“ „Wir sind danach unseren eigenen Weg gegangen und schließlich beide als Tänzer* innen beim Nederlands Dans Theater gelandet“, erzählt Imre. Da konnte man sich anmelden zum Choreografieren, und das taten wir beide – ohne es voneinander zu wissen. Als sich sogar herausstellte, dass wir fast exakt dieselben Tänzer*innen gecastet hatten, fühlte sich das wie ein Zeichen an, etwas zusammen zu machen.“
Und doch: Sie bleiben Bruder und Schwester, für viele nicht die naheliegendste Erfolgsformel für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Aber Imre und Marne beweisen das Gegenteil. Marne: „Natürlich gibt es manchmal Reibung im Entstehungsprozess, aber das gehört dazu. Letztendlich teilen wir dieselbe Vision, wollen wir dasselbe darstellen und ergänzen uns gut.“
Verbundenheit und Synchronizität sind die Elemente, die ihren Stil einzigartig machen. Das Ergebnis sind Tanzstücke, die das Publikum sowohl berühren als auch zum Nachdenken anspornen; der Geschichte und dem Gestaltungsprozess liegt immer eine bestimmte Emotion zugrunde. Das Duo entwickelt die Stücke teils zu zweit und teils zusammen mit den Tänzer*innen. Imre: „Wir mögen es nicht, alles vorzukauen und jede Bewegung wortwörtlich zu erklären. Wir wollen mit den Tänzer*innen arbeiten, mit ihren Körpern, mit ihren kreativen Ideen, und ihre Kunstfertigkeit zum Ausdruck bringen.“ Der einzigartige Stil von Bruder und Schwester wurde auch von Maria Grazia Chiuri von Dior bemerkt, die das Duo bat, für die Präsentation der Frühlings-Sommer- Kollektion 2023 des Modehauses bei der Paris Fashion Week choreografisch mitzuarbeiten. „Das war eine einmalige Erfahrung“, erzählt Marne. „Die Zeit bei dem ganzen Projekt drängte sehr, also war das kurz stressig.“ Imre ergänzt: „Wir entwarfen eine Tanzchoreografie, aber die Aufmerksamkeit sollte natürlich der Kleidung gelten. Letztendlich hat es geklappt, eine schöne Choreografie zu kreieren, die der Kollektion ebenfalls Raum bot.“ Ein Großteil des Tanzes wurde während der Show gefilmt. „Maria Grazia sagte irgendwann sogar: ‚Oh, don’t film the clothes, just film the dancers.‘ Das war eine sehr schöne Zusammenarbeit.“
Es geht Marne und Imre also nicht so sehr um den konkreten Inhalt, sondern darum, ein bestimmtes Gefühl zu übertragen. „Das ist die Essenz eines jeden Stückes, das wir machen“, meint Imre. „Letztendlich betrachten wir im Studio unser eigenes Gefühl, mit unserem eigenen Metronom“, ergänzt Marne. Wobei fühlen wir etwas? Und wovon distanzieren wir uns gerade? Wir sind sozusagen eine Art Antenne, die versucht zu spüren, was geschieht und was wir interessant finden.“ Imre: „Und diese Antenne ist geformt durch unsere eigenen Erfahrungen als Tänzer*in, aber auch als Mensch. Es ist schwierig zu erklären, aber wenn das Gefühl nicht da ist, sieht man das sofort. Bewegungen spiegeln Emotionen wider, und das verleiht dem Tanz die einzigartige Möglichkeit, über Gefühle zu kommunizieren.“
„Wir haben alle einen Körper“, erklärt Imre weiter. „Wenn wir eine bestimmte Emotion erfahren, ist diese unlösbar verbunden mit einer Bewegung. Darin können wir uns selber alle spiegeln, fast als ob wir das direkt mit unserem eigenen Körper erfahren. Es geht uns also darum, wie man ein Gefühl freilegen und dieses anschließend in Bewegungen übertragen kann. Das ist die Wirkung von Tanz. Gleichzeitig wollen wir, dass jeder – sowohl die Tänzer*innen als auch das Publikum – dem seine eigene Bedeutung geben kann“, ergänzt Marne. „Denn das ist die besondere, universelle Kraft von Tanz und Bewegung: Sie zeigt eine Emotion, die für jeden einzigartig ist.“
Dieser Text von Lara Oliveri erschien im September 2023 auf Vogue.nl. Der Artikel wurde für diesen Beitrag gekürzt und übersetzt.
Der Tanz der Jahreszeiten
Für das dreihundertjährige Jubiläum von Vivaldis Vier Jahreszeiten lassen sich die Choreograph*innen Franck Chartier, Bobbi Jene Smith & Or Schraiber, Imre & Marne Van Opstal und Emilie Leriche von Max Richters meisterhafter Bearbeitung des Werks zu einem bezaubernden Reigen rund um die verschiedenen Facetten der Liebe inspirieren.
Imre & Marne Van Opstal choreografierten die Jahreszeit Automne zu sehen ab Minute 21:15.
Vice Versa
28. Juni 2025 (Premiere)
1., 4., 6., 10. Juli 2025 &
6., 8., 13., 17., 19. März 2026