Noetic
Einige Gedanken von Sidi Larbi Cherkaoui

Szenenfoto Noetic mit dem Ballet du Grand Théâtre de Genève. © Filip Van Roe
Auf das Wort „Noetik“ bin ich während meiner Gespräche mit Adolphe Binder gestoßen, der Dramaturgin dieses Stücks und ehemaligen künstlerischen Leiterin der GöteborgsOperans Danskompani (gegenwärtig in Basel). Dieses Konzept hat etwas in mir angesprochen. Das Wort „Noetik“ kommt aus dem Griechischen und bezeichnet eine Beziehung zum Denken. In der Philosophie wird es definiert als intuitive Suche nach Erkenntnis. Auf Grundlage dieses Konzeptes suche ich nach einem Weg, unser inneres Wissen abzurufen, ein Wissen, das mit dem Instinkt verbunden ist, mit Ursache und Wirkung. Es ist ein Wissen, das bereits in uns und im Universum vorhanden ist und sich immer wieder manifestiert. Lynne McTaggart, eine der Autorinnen, die mich zu Noetic inspiriert haben, schreibt: „Die Welt funktioniert im Wesentlichen nicht durch die Aktivität einzelner Dinge, sondern durch die Verbindung, die zwischen ihnen besteht – in gewisser Hinsicht durch den Raum zwischen den Dingen. Der wichtigste Antrieb der Natur ist nicht der Kampf um die Vorherrschaft, sondern ein ständiger und unaufhaltsamer Drang nach Fülle. “
Meine persönliche Suche nach einer Form der Choreografie, die diese Sprache des Universums spricht, hat 2012 mit Puz/zle für die Eastman Company begonnen. Darin habe ich versucht, die Tänzer*innen so agieren zu lassen, dass sie den Steinen zuhören und mit ihnen tanzen. Danach kam Genesis, ein Werk, das ich für die fantastische chinesische Tänzerin Yabin Wang entwickelt habe. In diesem Stück bewegen sich die Tänzer*innen, vom Licht inspiriert, durch Bäume und ihre unausweichlichen, fraktalen Verzweigungen, umgeben von Glaskästen und Kristallkugeln. Noetic war der nächste Schritt. Für dieses Stück habe ich mit der Idee experimentiert, dass eine Linie eigentlich eine Kurve ist, und dass alles über die Form des Kreises verbunden sein kann.
Während der Proben zu Noetic im Studio habe ich versucht, mich auf sehr präzise Energien zu konzentrieren: Ich habe die Tänzer*innen gebeten, gemeinsam statt jede und jeder für sich allein zu arbeiten, um ein gemeinsames, kollektives Unterbewusstsein entstehen zu lassen. Das Ergebnis war eine Kettenreaktion von Bewegungen, ein Strom – wie ein Vogelschwarm in der Luft oder ein Fischschwarm im Wasser. Die Tänzer*innen bewegen sich wellenartig durch die anderen hindurch oder gehen elegant und zwanglos, aber auch mit Leidenschaft und Überzeugung aneinander vorbei. In anderen Momenten scheinen die Tänzer*innen Teile einer großen Maschine zu sein, die an den Rädern der Zeit drehen, jeder von ihnen Teil eines komplizierten Uhrwerks: die Elemente des Räderwerks einer Gesellschaft. Das choreografische Material wechselt zwischen diesen unterschiedlichen Formen, als würde es durch ein tiefes Verlangen angeregt, unablässig seine Form zu ändern: vom Gasförmigen zum Flüssigen zum Festen.
Für Noetic habe ich mit dem bildenden Künstler Antony Gormley zusammengearbeitet, zum vierten Mal seit unserer ersten künstlerischen Begegnung im Jahr 2005. Dieses Mal bestand sein Entwurf aus Latten, die miteinander verbunden werden können, um einen langen Weg zu bilden. Diese Latten sind aus Kohlefasern gefertigt und biegen sich auf natürliche Weise unter ihrem Gewicht. Gleichzeitig verbinden sie sich alle miteinander und krümmen sich so zu einem perfekten Kreis. Das Geheimnis des Werks liegt genau da: das Verstehen von Anfang und Ende, indem man sie verbindet. Eine Linie findet plötzlich ihre Vollendung als Kreis und erfüllt ein neues Ziel, nimmt ein neues Leben an, eine neue Form.
Bei den Kostümen habe ich mit der belgischen Modemarke Les Hommes zusammengearbeitet. Die Modeschöpfenden haben sich dabei für einen sehr binären Ansatz entschieden und sich auf sehr maskuline und sehr feminine Silhouetten konzentriert. Bei unserer Arbeit wird dieses binäre System durch die Praxis, jedes Individuum zu respektieren, infrage gestellt. Die heilige Geometrie, das urbane Leben, dargestellt als mechanische Funktionen, der Mikrokosmos spiegelt sich im Makrokosmos wider, alle diese Strukturen führen zur Vernetzung: Noetic versucht, all diese Themen auf poetische Weise anzusprechen. Im Inneren, ganz tief drin, sind die Erkenntnisse, die Handlungen und das Bewusstsein bereits da.
Vice Versa
28. Juni 2025 (Premiere)
1., 4., 6., 10. Juli 2025 &
6., 8., 13., 17., 19. März 2026