Interview

Norma, die Seherin, blind durch Liebe

Gespräch mit dem Regisseur Peter Konwitschny

Die Oper »Norma« von Vincenzo Bellini gilt als ein Werk des Belcanto, also ein Stück, das man wegen berühmten Sängern spielt. Was reizt sie als Regisseur an der Musik von Bellini, die zunächst so einfach zu sein scheint? 

Peter Konwitschny Es ist ein wenig wie bei Händel-Opern: Man denkt erst einmal, da passiert szenisch gar nichts oder höchst wenig. Aber das ist schlicht falsch! Diese scheinbar sehr einfache Musik blüht auf und gibt ihre Vielfalt wieder, wenn ein sinnvoller szenischer Vorgang dazu gesetzt wird, den sich ja auch der Komponist vorgestellt hat. 

Die berühmteste Arie in »Norma« ist die Auftrittsarie der Titelfigur, »Casta diva«. Die Arie ist so berühmt, dass man darüber vergisst, dass es nicht um eine Diva geht, sondern dass die Arie eine hochpolitische Ansprache an die Gallier ist. 

Peter Konwitschny Mit dem Auftritt der Norma wird sofort der Hauptkonflikt etabliert: Hass und Krieg gegen Liebe und Frieden. Norma zwingt am Anfang des Stückes die Gallier dazu, noch nicht mit dem Krieg zu beginnen. Die wollen ja losschlagen, sie wollen sich von der römischen Besatzung befreien. Und wir als Zuschauer werden erst im Nachhinein darüber informiert, warum sie mit ihrer Arie zum Frieden aufruft: Weil sie mit dem gegnerischen General liiert ist und sogar zwei Kinder mit ihm hat. Aber in dem Moment, da sie diese Arie singt, ist sie bereits hintergangen. Das macht die Tragik der Situation aus. Ich finde das trotzdem sehr lehrreich, weil wir alle oft nicht auf dem Laufenden sind, sondern einer Illusion aufsitzen. Wenn Norma erkennt, dass Pollione ihre Liebe verraten hat, kommt ihr die Kraft zum Friedenstiften abhanden und sie fällt mit ein in den rabiaten Vernichtungsgedanken. Das finde ich eine lehrreiche Botschaft dieses Theaterstückes, welche katastrophalen Auswirkungen eine verratene Liebe mit sich bringt, im Kleinen wie im Großen.

Norma begeht drei Vergehen: Sie bricht ihr Zölibat, erfindet einen unerwünschten Götterwillen und sie hat ein Liebesverhältnis mit dem Feind. Frauen, die sich auf ein Liebesverhältnis mit einem Feind eingelassen haben, man nennt das »horizontale Kollaboration«, wurden oft besonders streng bestraft, mit öffentlicher Demütigung u.a. Welches von Normas Vergehen wiegt am schwersten in dieser Oper? 

Peter Konwitschny Möglicherweise das körperliche Vergehen. Das ist natürlich ein Vertrauensbruch, deswegen heißt ein solcher Akt auch Hochverrat. Man muss das System bedenken, dem gegenüber dieser Verrat begangen wird. Dieses System ist an religiösen, politischen und menschlichen Missbrauch geknüpft. Mit anderen Worten: Das, was hier als Verrat bezeichnet wird, stellt sich als zutiefst menschlich heraus. Da stimmen wir vollkommen mit dem Komponisten überein, der dieser Frau die schönste Musik gegeben hat. Normas Musik ist doch nicht die Musik einer Verbrecherin.

In Ihrer Inszenierung gibt es einen deutlichen Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten Akt. Wir befinden uns nach der Pause in einer anderen Welt und in einer ganz anderen Zeit. Warum? 

Peter Konwitschny Zunächst zeigt die Oper ja dieses erstaunliche politisch-militärische System, das eine Frau leitet. Es ist gar nicht wichtig, ob das Stück zur historischen »Echtzeit« spielt, also etwa 50 Jahre vor der Zeitenwende, oder im Matriarchat. Norma hat als Priesterin die volle Macht über Krieg und Frieden. Diese Stellung dauert bis zu dem fürchterlichen Moment, an dem Norma begreift, dass ihre Liebe und damit ihre ganze Existenz nicht mehr stimmt. Die Kraft, die sie braucht, um ihre politische Funktion auszuüben, hat sie nicht mehr, nachdem ihr der Lebensnerv durchgeschnitten wurde, die Liebe. Das betrifft uns ja alle: Wenn so etwas in unserem Leben passiert, sind wir nicht mehr bei uns, dann geht uns die Lust verloren, an der Welt teilzunehmen. Im zweiten Akt bricht Norma zusammen, aber da bricht auch das System zusammen. Die männliche Seinsweise hat global gesiegt. Um das deutlich zu zeigen, machen wir einen riesigen Sprung in die Moderne. Wir zeigen, in einer historisch größeren Dimension, wohin es führt, wenn in einem gesellschaftlichen System Liebe Stück für Stück über Bord geht und nur noch Destruktionswillen übrigbleibt. 

Am Ende der Oper soll Norma, so sagt es das Libretto, gemeinsam mit Pollione auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Ist dieses Ende ein Liebestod? 

Peter Konwitschny Ganz und gar nicht! Der Tenor will immer mit Norma zusammen sterben, aber sie spricht das gesamte Ende über kein Wort mehr mit ihm, sondern nur noch mit ihrem Vater. Ein Liebestod ist wieder eine versöhnlerische, verharmlosende Interpretation. Für einen Liebestod gibt es auch gar keinen Anlass, denn »Norma« zeigt, genau wie alle Opern Richard Wagners, wie Menschen religiös und politisch missbraucht werden. Sich töten bedeutet hier, aus dieser Welt herauszugehen, die unerträglich ist in ihrer Lieblosigkeit, in ihrer Brutalität.

Das Gespräch führte Dramaturg Kai Wessler für das Programmheft der Neuinszenierung »Norma«, in dem Sie die vollständige Version des Interviews lesen können.