Regiekonzept

»Wenn wir Kultur vernichten, dann sterben die Utopien«

Gespräch zwischen der Regisseurin Vera Nemirova und dem Dramaturgen Kai Weßler

Vera Nemirova, der Grundraum, den Heike Scheele für die Inszenierung gebaut von Verdis »Don Carlo« gebaut hat, ist eine mächtige Klosterbibliothek. Wofür steht dieser Bibliotheksraum?

Vera Nemirova Die Oper beginnt und endet mit einer Szene im Kloster von San Yuste, dem Rückzugsort des abgedankten Kaiser Karl V., aber natürlich haben wir auch den Escorial, die Palastanlage Philipps II., gedacht, die im Grund ein riesiges Kloster ist. Klosterbibliotheken waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein Ort, in dem seit Jahrhunderten Wissen aufbewahrt und vermehrt wurde.

»Don Carlo« spielt in einer Zeit, in der mit dem relativ neuen Buchdruck auch neue Gedanken entstanden. Bücher werden nicht mehr nur in Klöstern abgeschrieben, sondern in Städten gedruckt, und dort entstehen auch gedruckte Flugblätter, auf denen neues, gegen die Kirche gerichtetes Gedankengut verbreitet werden kann. Es ist also kein Zufall, dass in dieser Zeit auch der erste »Index librorum prohibitorum«, das Verzeichnis der verbotenen Bücher, erscheint.

Vera Nemirova Und von da an unterscheiden alle autoritären Staaten oder Diktaturen streng zwischen den verbotenen und den staatlich legitimierten Büchern. Genau diese verbotenen Schriften werden für uns zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Ziemlich genau in der Mitte der Oper steht die Autodafé-Szene, also die feierliche Veranstaltung, bei der Ketzer verbrannt werden sollen. Wenn man den Begriff »Autodafé« nachschlägt, dann stößt man schnell darauf, dass Autodafé auch Bücherverbrennung bedeutet, dass hier also verbotenes Gedankengut vernichtet werden soll. Da geht es um Menschen, die durch die Macht des Wortes um ihr Recht kämpfen, frei zu denken. Leider hat es unsere Zivilisation immer noch nicht geschafft, solche Verhältnisse zu überwinden. Es gibt immer noch politisch Verfolgte, die im Gefängnis sitzen, weil sie inhumane Verhältnisse aufgedeckt haben. Verdis Oper wird genau hier aktuell. Von Heinrich Heine stammt der berühmte Satz: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt am Ende man auch Menschen.« Der Satz stammt zwar aus einem Stück über die spanische Inquisition, aber er beschreibt die zeitlose Gefahr der Unterdrückung von Gedanken. 

Verdi selbst hat drei Fassungen seines »Don Carlo« vorgelegt, neben der fünfaktigen französischen Fassung von 1867 noch eine vieraktige italienische Fassung von 1884 sowie eine fünfaktige italienische Version drei Jahre später. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Wahl der vieraktigen Fassung?

Vera Nemirova Wir haben uns für die konzentrierte vieraktige italienische Fassung entschieden, weil es die stringenteste Fassung ist. Aber es war uns wichtig, die Vorgeschichte der Handlung zu erzählen, die es nur in der fünfaktigen Fassung gibt. In dem Fontainebleau-Akt wird etwas ganz Entscheidendes erzählt, nämlich wie Carlo und Elisabetta erstmals aufeinandertreffen.

Anstelle des Fontainebleau-Aktes erleben wir zu Beginn deiner Inszenierung eine Uraufführung, den instrumentalen Prolog, den Manfred Trojahn für diese Aufführung neu komponiert hat. Wie setzt sich diese Musik in ein Verhältnis zu Verdis Oper?

Vera Nemirova Natürlich gibt es eine Reibung zwischen einer neuen Musik und Verdis musikalischem Text, aber Manfred Trojahn schöpft in diesem Stück unmittelbar aus Verdis akkordischem Material. Er erzählt nicht die äußere Handlung des Fontainebleau-Aktes, aber er stellt einen musikalischen Raum für diese Begegnung her und für den die kurze Utopie des Glückes dieser beider Menschen.

Eine der zentralen politischen Figuren des Stückes tritt im Grunde genommen gar nicht auf: Kaiser Karl V., der sich als spanischer König Karl I. nannte und der Vater von Philipp und Großvater von Carlo ist. Angesichts der »Unregierbarkeit der Welt« ist Karl 1556 abgedankt und zog sich ins Kloster zurück. Wofür steht Karl V., an dessen Grab die Oper beginnt?

Vera Nemirova Kaiser Karl V. war der mächtigste Mann seiner Zeit, aber er hat eingesehen, dass Macht kein persönliches Glück bedeutet. Sein Sohn Filippo scheitert an genau diesem Konflikt: Er verfügt über absolute Macht, wird aber nicht geliebt: nicht von seiner Frau, nicht von dem Vater, nicht von dem Sohn. Ich glaube, es war Verdi sehr wichtig, den König als einen Menschen zu zeigen, der an der Einsamkeit der Macht zerbricht. Aber Karl V. ist auch deswegen präsent, weil er den Figuren als eine Alternative zu Filippo erscheint. Am Anfang des Stückes tritt Don Carlo in einen Dialog mit Karl V. und am Ende noch einmal Elisabeth, und dieser Dialog mit dem toten Kaiser ist für die Figuren existenziell.

Wir kennen von vielen Opern Verdis diese fast resignative, sehr pessimistische Einstellung zur politischen Macht und zum Leben überhaupt. Zeigt uns Verdi aber nicht gerade in »Don Carlo« in der Figur des Marquis von Posa noch eine sehr viel positivere, idealistischen Blick auf Politik? 

Vera Nemirova Posa ist durchaus Teil des politischen Systems. Er hat einen militärischen Rang. Aber er sieht das Unrecht, das in Flandern durch Philipp verursacht wurde und im Kampf gegen diese Verhältnisse ist ihm jedes Mittel recht. Er glaubt, er könne das System von innen heraus manipulieren bzw. verändern und benutzt dazu sogar die Freundschaft zu Carlo und später die zum König. Posa ist kein Revolutionär, aber in seinen Ideen ist er radikal. Sein Satz »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« zeichnet ihn als einen Schillerschen Helden.

Dieses »Geben Sie Gedankenfreiheit« ist eine utopische Forderung, und von Utopien war ja vorhin bereits die Rede. Welche Rolle spielen Utopien für die Tragödie um Don Carlo?

Vera Nemirova Ich sehe den großen utopischen Moment des Stückes in der Begegnung zwischen Elisabeth und Carlo, die wir in dem Prolog zeigen. Die Liebe zwischen Carlo und Elisabetta, die die beiden nie ausleben können, durch zieht die ganze Oper als Ursache der Tragödie. Missglückte Utopien sind oft der Grund für abgrundtiefe Tragödie, und viele der großen politischen Tragödien haben einen utopischen Kern. Wir brauchen Utopien, um zu überleben! Der wesentliche Antrieb für meine Arbeit ist es, Musiktheater zu machen, aus denen der Zuschauer Kraft und Mut für Vision und Utopien schöpfen kann. So lange die Musik erklingt und andauert, ist Utopie möglich, und so lange es kulturelle Werte gibt, gibt es auch Utopien. Denn in der Beschäftigung mit den zunächst toten Buchstaben eines Werkes durch lebende Darsteller treten wir in einen Gedankenaustausch mit unserer Geschichte, und dieser Gedankenaustausch über Vergangenheit und Zukunft hinweg ist eine Notwendigkeit für unser kollektives Gedächtnis. Aber wenn wir Kultur vernichten, dann sterben die Utopien, die unser Lebenselixier sind.

Das Gespräch führte Kai Weßler. Das vollständige Interview ist im Programmheft zu »Don Carlo« abgedruckt.