Entstehung
Bieder, Herr Meier?
Gedanken zum historischen Kontext des »Wildschütz«
Im Jahr 1842 betrat »Der Wildschütz« und damit Dorfschullehrer Sebastian Baculus in Leipzig erstmals die Bühne und trieb dem Uraufführungspublikum die Lachtränen in die Augen. Untertanen treffen auf Adelige, man lebt und liebt den Standesunterschied, der Adel sehnt sich gleichzeitig nach dem einfachen Vergnügen des Bürgers, während der Bürger nach den verheißungsvollen Talern und Schlössern schielt. In der virtuosen Verkleidungskomödie verschwimmen diese Grenzen, Lortzing zeigt dadurch mit dem Finger drauf und beschwört ihre Absurdität: Es ist Vormärz. Im Schlepptau des Wiener Kongresses 1815 und der Karlsbader Beschlüsse von 1819 halten Zensur in Presse und freier Meinungsäußerung, Hungersnöte und repressive Polizeiaufgebote Einzug. Die Mitte Europas brodelt unter der Knute der Restauration. Kritische Literaten wie Georg Büchner, Heinrich Heine und Karl Marx gehen in die Emigration. Den Idealen der französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« folgend, manifestiert sich die politische Grundforderung der jungen liberalen und nationalen Gegenbewegung, die den konservativen Herrschern gegenübersteht. Der französische Code civil, der die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz festschreibt, wird in den besetzten deutschen Staaten eingeführt, gleichzeitig knebelt Fürst Metternich die öffentliche Meinung ebendieser Bürger. Die Industrialisierung schreitet voran und offenbart soziale Missstände, der Frühkapitalismus ist auf dem Vormarsch, die Standesgesellschaft im Umbruch. Es ist Biedermeier. Die Flucht ins private Idyll. Carl Spitzweg malte auf kleinformatigen Bildern das biedermeierliche Kleinbürgertum, behagliche Wohnungen wurden eingerichtet, sittsame Rüschenmode entworfen.
Biedermeier als Parodie
Die nachträgliche Namensgebung dieser Epoche birgt übrigens einen aufschlussreichen Irrtum, denn Biedermeier war ursprünglich eine Parodie im Wortsinne. 1847 verfasste der Dichter Ludwig Pfau, zur Zeit der Märzrevolution Herausgeber der Satirezeitschrift »Der Eulenspiegel«, ein Gedicht mit dem Titel »Herr Biedermeier«, das folgendermaßen beginnt:
»Schau, dort spaziert Herr Biedermeier / und seine Frau, den Sohn am Arm. / Sein Tritt ist sachte wie auf Eier, / sein Wahlspruch: weder kalt noch warm.«
Ab 1855 wurde die fiktive Figur des spießbürgerlichen schwäbischen Dorfschullehrers von einfachem Gemüt, Gottlieb Biedermeier, das satirische Sprachrohr des Arztes Adolf Kußmaul und des Juristen und Schriftstellers Ludwig Eichroth. Sie legten ihrer Figur in den Münchner »Fliegenden Blättern« Gedichte in die Feder, die die unpolitische Haltung und Kleingeistigkeit großer Teile des Bürgertums verspotteten, kleine Stube und enger Garten als Gipfel irdischer Glückseligkeit. Ausgerechnet diese karikierende Betrachtung kritischer Zeitgenossen auf einen täppischen Dorfschullehrer mauserte sich zu einer ernstgemeinten Epochenbeschreibung elegischer Innerlichkeit.
Aus diesem zerrissenen Zeitkontext heraus schuf Albert Lortzing mit seinem »Wildschütz« einen satirischen Zündstoff. Die enge Bürgerlichkeit bildet in Lortzings »Wildschütz« den Ausgangspunkt für eine Beziehung der besonderen Art: Baculus und Gretchen. »Wann zuvor sind in der deutschen Oper Verlauf, Steigerung, Sinnlosigkeit und Penetranz eines Ehestreites so detailgetreu wiedergegeben worden, noch dazu voyeuristisch kommentiert von einem ganzen Chor? Die Macht der Öffentlichkeit, die Mozart erahnt, wird bei Lortzing zum Albtraum. Die bürgerliche Ehe erweist sich als dunkle Kehrseite der aufklärerischen Liebe.« Wolfgang Willaschek beschreibt in seinem Lortzing-Plädoyer »Biedermann und Brandstifter« Kontext und Subversivität gleichermaßen. Auch in der Reflexion des »Hasch-mich« des zweiten Aktes ist beides zu erkennen: bereits die Vorlage, August von Kotzebues »Der Rehbock oder Die schuldlosen Schuldbewussten«, wurde von zeitgenössischen Kritikern als »Wollustspiel« diffamiert, auch Lortzings Oper war ein Angriff auf die Sittlichkeit des biedermeierlichen Gutbürgers, die Jürgen Lodemann so treffend als »Vormärzliche Pornografie, elegant im Billardgewand« beschrieb. Der Wandel im öffentlichen Umgang mit dem Eros zeigt gleichzeitig die restaurativen Tendenzen der Zeit:
»Bei Mozart – vierter Akt von ›Le nozze di Figaro‹ – spielt die ersehnte erotische Befreiung im nächtlichen Park, in freier Natur. Bei Lortzing – zweiter Akt von ›Der Wildschütz‹ – wird der Eros um einen Billardtisch gezwängt. Man wagt sich nicht mehr ins Freie. Man verbarrikadiert sich. Statt Mondlicht Petroleum. Statt Verführung Gesellschaftsspiel. Die Kunst des Eros wird dezimiert auf das bloße Geschick, wer bugsiert wen als erstes aus dem Raum.« (W. Willaschek)
Doch hinter der Fassade brodelt es: »Vor und nach der hilflosen Einsicht der Baronin, wehrloses Opfer zu sein, erklingt eine Melodie mit gewalttätigem Gestus, die den sich harmlos gebenden Biedermännern in einer Sekunde die verlogene Maske vom Gesicht reißt.« Das Ganze subkutan in ein turbulentes Spiel gekleidet, das vom Publikum lustvoll gelesen werden konnte und den Sittenwächtern nicht für ein Verbot hinreichte.
Auf einmal: Kapitalist!
Im Zentrum des »Wildschütz« schließlich steht ein basstimbriertes Prachtexemplar des kleinen Mannes, der nur allzu schnell bereit ist, seine Braut für 5000 Taler an den Baron verkaufen, gescheitert ist der Handel nur, weil der Baron das falsche Gretchen wollte. Die verkaufte Braut ist ein klassischer error in objecto angesichts der astronomischen Summe. Die Moral des Baculus wird in der berühmten Taler-Arie schlagartig bezahlbar – »Vor kurzem war ich noch / ein rechter Lumpenhund / nicht sehr viel mehr als Mensch und Christ / und nun auf einmal / Kapitalist!« Dieser Begriff taucht hier zum ersten Mal überhaupt in einem Operntext auf, exakt 25 Jahre vor Erscheinen von Karl Marx’ »Das Kapital« und begleitet von verdächtig pompösen Fanfarenklängen aus dem Orchestergraben – lustvolle Parodie der armen Wurst. Der, der nicht viel hat, ist leichter zu korrumpieren, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, brüllkomisch hier und gar nicht Brecht.
Heute ist der Übergang vom Erb-Adel zum Geld-Adel längst vollzogen, doch die da oben und die da unten beäugen sich zu allen Zeiten durch die gleiche Brille. Neidisch-missgünstig-wollüstig wird hochgeschaut, herablassend runter, geschielt wird nach dem lieben Geld allerorten. Zeitlos aktuell auch hier die Waffe der Komödie: Der Narr stellt sich bloß, spielt dümmer, als die Polizei erlaubt, auf die er zielt.
Anna Melcher