Interview

»... ob das Wesen der Liebe in Harmonie oder Leidenschaft begründet ist.«

Ein Gespräch mit Rainer Mühlbach (Dirigent), Jan Philipp Gloger (Regisseur), Ben Baur (Bühnenbildner) und Karin Jud (Kostümbildnerin)

Georg Friedrich Händels opera seria »Alcina« ist eine sogenannte Zauberoper – ein im Barock sehr beliebter Typus –, in dessen Mittelpunkt eine »böse« Frau steht, die unbescholtene Männer verzaubert, so dass sie sich in sie verlieben. Wie kann man das Außergewöhnliche der Alcina-Figur heute auf der Bühne zeigen?

Jan Philipp Gloger Wir übersetzen den Zauber gewissermaßen. Wir sagen, Alcina ist vor allem eine radikal Liebende, die Liebe, Ausschweifungen, aber auch Fantasie und Imagination als oberste Lebensprinzipien zelebriert. Durch diese Haltung entwickelt Alcina bei uns tatsächlich eine Kraft, bekommt übernatürliche Fähigkeiten. Der Zauber ist also bei uns nicht selbstverständlich, sondern stammt von dieser radikalen Liebesfähigkeit her.

Ben Baur Weil Alcina die Kraft der Imagination besitzt, ist sie bei uns im buchstäblichen Sinne die Beherrscherin des Raumes. Sie kann Dinge erscheinen oder verschwinden lassen, Räume öffnen sich und werden verschlossen.

Karin Jud Die Figur der Alcina gehört in der Oper zu der Kategorie »unglaublich erotische Frau«, wie auch Lulu oder Carmen. Das darzustellen ist natürlich nicht ganz einfach, zumal Erotik auch sehr subjektiv ist. Wichtig war uns, auf keinen Fall eine billige Erotik mit viel Haut abzubilden. Wir wollen eine Frau zeigen, die nicht nur auf ihren Sex-Appeal reduziert werden darf, sondern deren Attraktivität mit ihrer ganzen unkonventionellen und radikalen Lebensweise zu tun hat, eine Trendsetterin sozusagen, deren Trend, wenn wir die Geschichte weiterverfolgen, wahrscheinlich aber im wahrsten Sinne des Wortes immer in den Kinderschuhen stecken bleiben wird.

In »Alcina« gibt es eigentlich kein anderes Thema als die Liebe in unterschiedlichen Konstellationen und Ausprägungen.

Jan Philipp Gloger Uns hat immer interessiert, die beiden Frauen – Alcina und Bradamante – als Personifizierungen zweier verschiedener Welten oder Lebensmodelle zu sehen. Es geht also nicht nur um Ver- und Entlieben sondern darum, wie wir leben wollen. Die Frage ist, ob diese beiden Lebensmodelle nebeneinander existieren können, oder ob sie miteinander kollidieren und sich vielleicht sogar ausschließen. Alcina verkörpert eine Liebe, die absolut ist, frei, sinnlich, aber nicht kompatibel mit bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen und letztlich auch sehr rücksichtslos, die zerstören kann.

Ben Baur Bradamante dagegen steht für das Partnerschaftliche einer Beziehung, die auch in die Gesellschaft hineinwirken möchte, dort einen Platz hat, mit der Familie als Lebenszentrum – das wird von ihr auch als eine Form von Liebe gesehen. Da sich Ruggiero nicht nur zwischen zwei Frauen, sondern zwischen zwei Lebensmodellen entscheiden muss, war es uns wichtig, die jeweiligen Welten zu zeigen. Alcina, so heißt es im Libretto, verzaubert Männer in Tiere. Das finde ich ein interessantes Bild: Tiere sind abhängig von ihrem Herrchen, gleichzeitig aber von ihren Trieben gesteuert, sie kennen keine Vernunft und keine Moral. Unseren Verliebten, elf Bewegungsdarstellern, sieht man an, dass sie mal ein normales, bürgerlich integriertes Leben geführt haben, bis sie Alcina verfielen und nun in einem tierähnlichen Zwischenzustand verharren.

Karin Jud Auch hier haben wir auf der Kostümebene eine sehr reale Herangehensweise gewählt. Man sieht Kleidungsstücke, die man einer uns bekannten und realen Bürowelt klar zuordnen kann. Sie wird aber von unseren Verliebten auf eine Art und Weise getragen, die unseren gesellschaftlichen Erwartungen nicht entspricht. Sie sind ihren Trieben und ihrer Fantasie erlegen. Die Kleidung wird von ihnen selbst auf die Bedürfnisse eines irrational Liebenden umfunktioniert.

Ben Baur Auf der Suche nach einem Raum, in dem sich diese beiden Welten begegnen, Alcinas Reich, in das Bradamante und Melisso eindringen, sind wir sehr schnell auf einen von Alcina beherrschten Irrgarten gekommen als Ort, an dem diese Liebenden und Liebesuchenden aufeinandertreffen, sich verfolgen. Dieser Irrgarten wird im Laufe des Stückes zunehmend verwirrender – Menschen verlieren sich gegenseitig und schließlich sich selbst. Manchmal denken wir, der Raum ist wie die Liebe selbst.

Erstaunlich ist, dass das Stück einen Perspektivwechsel vornimmt. Wird uns zu Beginn Alcina als »böse Zauberin« vorgeführt, während Bradamante, die versucht ihre Familie zu retten, unsere volle Sympathie besitzt, leiden wir im Verlauf der Oper immer mehr mit der verlassenen Alcina.

Rainer Mühlbach Ganz sicher ist Alcina nicht die »Böse«. Was »Alcina« als Werk erst einmal auszeichnet, ist die Fülle von musikalischen Einfällen und Ideen, die Händel zum großen Teil der Alcina zugeordnet hat. Alcina ist durch eine unglaubliche Vielschichtigkeit der Emotionen charakterisiert. Schon im ersten Akt, wenn ihr Zweifel an Ruggieros Liebe kommen, singt sie mit »Sì, son quella« eine »nackte«, nur von einem Violoncello, Kontrabass und Cembalo begleitete Arie und offenbart hier eine große Verletzbarkeit. Sie steht vor der Frage, ob sie ihre Kraft verlieren wird, ob sie sich verändert. Ich sehe da eine Parallele zur großen Szene der Marschallin im »Rosenkavalier« – eine Frau reflektiert über das Älterwerden, die Vergänglichkeit. »Ah! mio cor« im zweiten Akt arbeitet mit der musikalischen Darstellung des ängstlichen Herzklopfens, es folgt die Furie im Accompagnato-Rezitativ »Ah! Ruggiero crudel«, dann »Ombre pallide« mit einem veritablen Geisterspuk im Orchester und im dritten Akt »Ma quando tornerai«. Hier schreibt Händel gewissermaßen die Umkehrung von »Ah! mio cor.« Die letztgenannte Arie, im zweiten Akt, ist in den Eckteilen Ausdruck verletzter Gefühle, im Mittelteil dagegen explosive Energie der – noch – Zauberin/Herrscherin. »Ma quando tornerai« im dritten Akt zeigt uns in den Ecksätzen nicht mehr die Herrschende, sondern die von ihrer Verzweiflung beherrschte Frau; im Mittelteil nimmt diese Verzweiflung den Ausdruck tiefsten Flehens an: Noch einmal bittet sie Ruggiero zu bleiben. Da wir der Meinung waren, dass wir das »lieto fine«, also das Happy End als Konvention der damaligen Zeit nicht brauchen und nicht wollen, weil es die Tragik der drei Hauptdarsteller wieder aufheben würde, haben wir uns entschieden, Alcinas Arie »Mi restano le lagrime«, ihre Einsicht, Ruggiero endgültig verloren zu haben, an den Schluss zu setzen. Was ich bei unserer szenischen Realisierung spannend finde ist, dass die Arie jetzt eigentlich auch für Bradamante erklingt. Die Figur der Bradamante hingegen verändert sich im Laufe des Stückes nicht so extrem, entspricht aber durchaus nicht den Erwartungen, die man an die musikalische Darstellung einer »Hausfrau und Mutter« hat: Ihre Arie »Vorrei vendicarmi« ist doch überraschend kriegerisch! Bradamante hat von Beginn an eine ganz klare, feindliche Haltung gegenüber Alcinas Welt, die ihr fremd ist. Nur in »È gelosia« erleben wir einen Augenblick der Schwäche. Während sie Oronte und Morgana über das Wesen der Eifersucht aufzuklären sucht, stößt sie auf ihre eigene Verwundbarkeit.

Im Laufe der Oper wird Alcina zu einer »ganz normalen Frau«, die unendlich unter dem Verlust von Ruggiero leidet und keine Möglichkeit findet, sich zu trösten. Wieso verliert Alcina überhaupt ihre Zauberkraft?

Jan Philipp Gloger Weil sie zum ersten Mal einen Mann nicht halten kann. Wenn ihre Zauberkräfte eine Übersetzung für eine 100%-Liebe sind, die auch das Imaginäre integriert, sie aber zweifeln muss, dass Ruggiero sich mit ähnlicher Entschlossenheit dieser Liebe hingibt, dann muss sie an ihrer ganzen Existenz, ihrer ganzen Welt zweifeln, denn Alcina ist nichts anderes als gelebte Liebe. In dem Moment, in dem Ruggiero sich gedanklich damit beschäftigt, wieder zu Bradamante zurückzukehren, ist Alcina existentiell bedroht.

Auffällig ist doch, dass unsere Sympathien beständig schwanken zwischen Alcina und Bradamante. Beide Frauen haben offensichtlich ihre Berechtigung …

Jan Philipp Gloger … oder keine … Ich denke, es ist nicht so einfach, sich zu entscheiden. Wir wollen beides, aber können nicht beides kriegen. Harmonie, Ankommen, Heimat einerseits und Neugier, Genuss, totale Freiheit andererseits schließen sich aus. Eine Zeit lang können wir uns vormachen, beides sei miteinander zu vereinbaren, aber irgendwann …

Ben Baur Ich persönlich bezweifle, dass es diese »eine« Entscheidung geben muss, sondern denke vielmehr, man muss sich und auch seinen Partner immer wieder neu dazu befragen.

Jan Philipp Gloger Aber »Alcina« zeigt doch gerade, dass die optimistische Vorstellung »man muss Treue nur etwas weiter definieren, dann bekommt man das alles schon integriert« auch schiefgehen kann. Beide Lebensmodelle beanspruchen für sich eine gewisse Absolutheit. Die Figuren müssen sich irgendwann dagegen oder dafür entscheiden – und damit für- oder gegeneinander. Alcinas Schwester Morgana und ihr Geliebter Oronte treffen und revidieren diese Entscheidungen übrigens im Minutentakt. Sie zeigen die Liebe als ständiges Hin und Her aus Kämpfen, Verletzungen und Versöhnungen. Damit stellen sie auf einer anderen Ebene eine spannende Frage: Nämlich, ob das Wesen der Liebe in der Harmonie oder in der Leidenschaft begründet ist.

Das Gespräch führte Sophie Becker