Tschaikowsky
»Seine Musik ist durch und durch Ballettmusik...«
»Die wirkliche Berufung Tschaikowskys war das Ballett«, schrieb der Tänzer und Choreograf Michail Fokin 1913 anlässlich des 20. Todestags des Komponisten.
Wenn uns heute dieses Urteil vielleicht ein wenig zu eng gefasst erscheint, so müssen wir doch zumindest für Tschaikowskys Bühnenschaffen feststellen, dass zwar alle seine drei Ballette, von den zehn vollendeten Opern jedoch nur »Eugen Onegin« und »Pique Dame« im gängigen Repertoire sind – Aufführungen der »Jungfrau von Orleans», von »Mazeppa« oder »Iolanthe« usw. sind vergleichsweise selten.
Dass in Tschaikowskys sinfonischer Musik vielfach tänzerische Elemente vorkommen, wurde bereits zu seinen Lebzeiten diskutiert und wird für den Zuhörer im Konzert immer wieder erfahrbar. Nicht von ungefähr griffen viele Choreografen des 20. Jahrhunderts wie George Balanchine, Kenneth MacMillan und John Cranko, um nur einige zu nennen, für ihre Choreografien auch auf seine Instrumental- und Orchesterwerke zurück.
Umso mehr mag es aus heutiger Sicht überraschen, dass die Musik zu »Schwanensee« von vielen Kritikern nach der Moskauer Uraufführung am 20. Februar 1877 als »einförmig und langweilig«, ja als »blass und äußerst monoton« empfunden wurde. »Für Musiker«, so war zu lesen, »ist sie (die Musik) vielleicht eine interessante Sache, aber für das Publikum ist sie trocken.«
Vergleichsmaßstab für Tschaikowskys Zeitgenossen waren Ballette wie die nur wenige Wochen zuvor in St. Petersburg uraufführte »La Bayadère« mit ihrer zweifellos abwechslungsreichen, temperamentvollen und schmissigen, aber auch recht flachen Musik von Ludwig Minkus. Ballettspezialisten wie Cesare Pugni, Ludwig Minkus u.a. waren Handwerker im besten Sinne, die noch während der Proben kompositorisch jeder Vorgabe und Änderung des Ballettmeisters folgen konnten. Sie schufen eine passgenaue, sehr eingängige Tanz-Musik, die allerdings ohne inhaltlichen Tiefgang und durchaus austauschbar war. So verzeichnete zum Beispiel Cesare Pugnis Partitur zu Arthur Saint-Léons Ballett »Das bucklige Pferdchen« von 1864 Einlagen von insgesamt achtzehn Komponisten!
Tschaikowsky hingegen hatte vor der Arbeit an »Schwanensee« bereits drei Sinfonien und andere Orchesterwerke geschrieben und brachte diese Erfahrungen – und auch diesen musikalischen Anspruch – mit in die Arbeit am »Schwanensee« ein. Zwar findet man in der Musik zu »Schwanensee« durchaus Anklänge an die Tradition des spezialisierten Ballettkomponisten. So werden die Solovariationen musikalisch durch ein obligates Soloinstrument begleitete (im »Schwarzer Schwan-Pas de deux« zum Beispiel durch ein Violin-Solo). Und die klischeehaft blechlastig instrumentierten Coda-Teile der klassischen »Pas«, also der mehrteiligen Tänze, bilden übertrieben knallige Abschlüsse. Doch brachte Tschaikowsky sein sinfonisches Denken und sein kompositorisches Können auch innerhalb der ihm durch Balletttraditionen einerseits und das konkret zu behandelnde Libretto andererseits gesteckten Grenzen vielfältig zum Einsatz.
Nicht nur verdeutlichte Tschaikowsky inhaltliche Bezüge musikalisch durch eine stilistische Übereinstimmung der erklingenden Melodien und spiegelte mit Hilfe der Orchestrierung Personenkonstellationen und Entwicklungen wider. Er schuf für seine Musik von »Schwanensee« auch eine innere Organisation mittels der verwendeten Tonarten: Durch ihren jeweiligen Verwandtschaftsgrad mit der Grundtonart H wird die Musik zu den verschiedenen Personen, Handlungsentwicklungen und Ereignissen innerhalb des Dramas positioniert und eingebunden.
Die divertissementartigen Nationaltänze des dritten Aktes werden auf ebendiese Weise durch ihre Tonarten als hübsches tänzerisches Beiwerk entlarvt, das sich vor allem aus der Balletttradition und den Erwartungen des Publikums erklärte, nicht aber aus Notwendigkeit des Dramas.
Die musikalische Fassung von »Schwanensee« bei der Uraufführung 1877 ist aufgrund mangelnder Quellen unbekannt – die Vermutungen reichen von einer mehr oder weniger unangetasteten Partitur bis hin zu größeren Eingriffen durch den Moskauer Ballettmeister und Choreografen der Uraufführung Julius Reisinger.
Der mit Tschaikowsky befreundete Musikkritiker Nikolai Kaschkin schrieb in seinen »Erinnerungen an Peter Tschaikowsky«, dass dessen Musik nach und nach durch Einlagen aus anderen Balletten ersetzt wurde, bis »fast ein Drittel der ›Schwanensee‹-Musik aus fremden Musikeinlagen« bestand.
Da Kaschkin diese Vorgänge jedoch nicht datiert hat, können sie zeitlich nicht eingeordnet werden und beziehen sich möglicherweise erst auf die beiden Neueinstudierungen des Balletts durch Reisingers Nachfolger Joseph Hansen 1880 und 1882, für die Fremdeinlagen bekannt sind.
Was Tschaikowsky von Einschüben fremder Musik in sein Werk hielt, erfuhr die Ballerina Anna Sobetschtschanskaja, die sich für ihre Vorstellungen als Odette/Odile einen eigenen Pas de deux von Marius Petipa hatte choreografieren lassen – zur Musik von Ludwig Minkus. Tschaikowsky protestierte energisch, ließ sich Minkus’ Musik kommen und komponierte der Ballerina zu Petipas Choreografie eine passende neue Musik, so dass sie den Tanz ohne erneute Probe in ihre Vorstellungen einbauen konnte.
Die heutigen Einstudierungen von »Schwanensee« beziehen sich bis auf wenige Ausnahmen auf die große Neuproduktion des Balletts durch Marius Petipa und Lew Iwanow in St. Petersburg 1895.
Der Dirigent und Ballettkomponist Riccardo Drigo erstellte dafür eine neue musikalische Fassung und nahm in der Partitur, neben vielen Kürzungen und kleineren Umstellungen, auch signifikante Änderungen vor. Zum Beispiel wurden der Walzer und der Pas de trois im ersten Akt vertauscht und die einzelnen Teile innerhalb des »Tanz der Schwäne« im zweiten Akt in eine neue Reihenfolge gebracht.
Am augenfälligsten – und auch heutzutage nach wie vor beibehalten – war sicherlich die Verlagerung des Pas de deux aus dem ersten in den dritten Akt: Die Musik, die wir das »schwarzer Schwan-Pas de deux« kennen, stand ursprünglich nach dem Pas de trois im ersten Bild. Zudem fügte Drigo drei von ihm orchestrierte Stücke aus Tschaikowskys Klavierstücken op.72 in den dritten und vierten Akt ein. Doch selbst mit diesen Eischüben war die Partitur nun ein Viertel kürzer als im Original. Auch in der weiteren Aufführungsgeschichte sind Musik und Libretto von »Schwanensee« immer wieder bearbeitet, dem Geschmack der Zeit und den Intentionen des jeweiligen Choreografen angepasst worden. Dies schließt auch Bemühungen ein, anhand überlieferter Tanznotationen die Version von Petipa/Iwanow möglichst genau zu rekonstruieren, oder, rückgreifend auf Tschaikowskys Autograf, die Partitur wieder in der ursprünglichen, von ihm komponierten Form zum Erklingen zu bringen. Diese lange, immer wieder aufs Neue stattfindende künstlerische Beschäftigung mit »Schwanensee« zeigt, wie recht der namhafte russische Musikkritiker Hermann Laroche hatte, als er, weitaus verständiger als seine bereits zitierten Kollegen, über Tschaikowskys Partitur urteilte: »Seine Musik ist durch und durch Ballett-Musik von einer Qualität, die sie auch für den seriösen Musikfreund interessant macht.«
Der Text von Frank-Rüdiger Berger stammt aus dem Programmheft »Schwanensee«.