Regiekonzept
»Erdas Traumspiel«
Regisseur Willy Decker zur Inszenierungskonzeption
In archaischer Zeit haben sich die Menschen die Welt und ihre Zusammenhänge durch Mythen erklärt. Viele dieser Geschichten sind Entstehungsmythen. Sie beantworten Fragen wie »Warum ist diese Welt so entstanden?«, »Wie hat alles begonnen?«, »Wer sind wir?«, »Woher kommen wir?«, »Wie sind wir das geworden, was wir sind?« mit gleichnishaften, allegorischen Geschichten von archetypischen Wesen wie der Urschlange am Grunde der Welt in indischen Mythen oder den aus dem Himmel herabsteigenden Königen der asiatischen Völker bis hin zum biblischen Mythos der Genesis.
Auch Wagner hat mit seinem »Ring«-Mythos vom Anfang und vom Ende der Welt erzählen wollen. Zumindest am Beginn ist sein »Ring des Nibelungen« solch ein Entstehungsmythos, inspiriert von anderen Mythen, sich neben sie stellend mit dem Anspruch, sie zu überwinden. So wie Wagner bei der Schaffung des »Ring«-Zyklus so gut wie alle Gesetze des damaligen musikalischen Theaters auf den Kopf stellt, so ist auch schon die Geschichte seiner Konzeption und Entstehung eine Umkehrung des Gewohnten. Wagner beginnt mit dem Ende und phantasiert sich mit ungeheurem Ausdruckswillen immer tiefer in die Vorgeschichte und die Vergangenheit, um schließlich am Uranfang anzukommen, am Beginn der Welt, am Beginn des Seins, des Bewusstseins, am Beginn von Musik, Sprache und Bedeutung, am Beginn von Theater als Spiegelung der Welt. Die biblische Genesis beginnt mit dem Satz »Im Anfang war das Wort«; für Wagners Mythos gilt »Im Anfang war der Ton«: Die Welt des »Ring«-Mythos entsteht aus Klang, oder eher noch aus einem Ton, dem ungeteilten, ruhig, ungestört verweilenden tiefen »Es« der Kontrabässe zu Beginn des »Rheingold«. Wagners musikalisches Theater, und damit die Welt, die es bedeuten soll, beginnt mit dem aus der Stille, dem Nichts erklingenden Ton. Es scheint der tiefste mögliche Ton, sozusagen der Ur-Ton, ein kosmischer »cantus firmus«, das »Es«, dunkel, vollkommen ruhend, unisono, ungeteilt. Aus diesem Ur-Klang entfaltet sich die ganze Welt des »Ring«, so wie der Kosmos aus dem Urknall. Alle Entstehungsmythen haben eines gemeinsam: vor dem Beginn, dem Ur-Anfang war das Nichts, das Chaos, die Leere.
Welt und Theater
Am Anfang von allem steht die Teilung des Einen in Zwei, in Subjekt und Objekt, in oben und unten, in Betrachter und Betrachtetes, in Bühne und Zuschauerraum. Damit wird der Raum des Theaters über die Bühne hinaus zum Ausdruck und zur Spiegelung der Welt. Subjekt und Objekt verschränken sich, bedingen sich gegenseitig. Keines von beiden existiert ohne das andere. Und bevor Theater beginnt, gibt es noch einen Urzustand: das Warten des Zuschauers, den leeren Zuschauerraum als die Leere, das Nichts vor allem Beginn.
In diesem Uranfang schläft Erda; besser gesagt: dieser Uranfang ist Erda. »Mein Schlaf ist Träumen …« wird sie in »Siegfried« singen. Erda träumt die Welt. Schlaf ist das Nichts der Bewusstlosigkeit. Aus diesem Nichts steigt der Traum als trügerische Spiegelung, vergänglich und ohne Substanz. Erda, die vor der Zeit und grenzenlos vor jeder Räumlichkeit existiert, gebiert Zeit und Raum. »Mein Sinnen (ist) waltendes Wissen«. Das Walten der Welt entspringt Erdas Schlafen und Träumen. Die Welt ist Traum, trügerisches Spiel des Schlafes, Illusion, wie das Theater. Erda sitzt in einem kosmischen Theaterraum und träumt die Welt in einem zeitlosen Urmoment, »wo die Seele noch Neuling auf Erden, als vermeintlich unbeteiligter Zuschauer in den Weltraum staunte.« (Carl Spitteler) Und was sich als erstes in ihrem Traum manifestiert, ist auf der Ebene der Materie das Wasser beziehungsweise die Welle, Urbewegung allen Lebens, und auf der Ebene des Geistes die kindliche Naivität der Rheintöchter, die erste Stufe menschlichen Bewusstseins. Musikalisch nennt Wagner diesen Beginn »ruhig heitere Bewegung«, ungestört, ewig sich wiederholend, ohne Leid, eben heiter!
Die Ursünde: der Griff nach dem Gold
Im ersten Stadium von Erdas Traum erscheint also so etwas wie ein Paradies, verwandt dem Garten Eden der biblischen Genesis, wo es kein Leid, keinen Neid, keinen Krieg gibt. Und so wie es im biblischen Entstehungsmythos den Sündenfall gibt, der den Auszug aus dem Paradies zur Folge hat, gibt es ihn auch im »Ring«-Mythos. Allerdings ist es ein anderer Sündenfall in bewusster Umdeutung des biblischen Mythos: Die Erbsünde ist nicht der Griff nach dem Apfel der Erkenntnis, sondern der Griff nach dem Gold. Der biblische Mythos handelt vom Verhältnis des Menschen zu Gott. Deshalb ist die Erbsünde das Streben nach Erkenntnis, das Wissen-Wollen im Gegensatz zum Glauben. Der »Ring«-Mythos dagegen behandelt das Verhältnis des Menschen zum Menschen, und deshalb ist die Erbsünde hier die Gier nach Besitz beziehungsweise Macht. Ihre Bedingung ist folgerichtig die Verwerfung der Liebe. Liebe, die immer auch Brüderlichkeit und Mitleiden beinhaltet, lässt der Macht in ihrer zerstörerischen unterdrückenden Form keine Möglichkeit. Die Verkörperung der Erbsünde ist Alberich. Mit ihm betritt das erste männliche Wesen die Bühne von Erdas Traumspiel. Die Geschichte des »Ring« ist, analog zur evolutionären Entwicklung der Welt, eine Geschichte der permanenten Entfaltung.

Im »Rheingold« entfaltet sich die Welt vom ungeteilten Ur-Ton, Ur-Punkt zur Dualität, zur Zweigeteiltheit vom Ich und der Welt, dann in die Dreizahl der Rheintöchter (das Viele). Das Rheingold selbst wird auch aus seiner Ruhe herausgerissen, als Ungeteiltes in eine Vielheit aufgeteilt (Gold, Tarnhelm, Ring etc.) Auch die Wesen teilen sich: in denkend Gestaltende (Götter), in kraftvoll Bauende (Riesen), in fördernd Grabende (Zwerge); das Bewusstsein teilt sich in Stolz (Götter), Neid (Riesen), Gier (Nibelungen) etc. Diese sich entfaltenden Aspekte des Menschlichen treten nun zueinander in Beziehung. Man beginnt, Absprachen zu treffen, Konkurrenz zu entwickeln. Schließlich wird der Kampf um die Vorherrschaft entfacht. In der Symbolik des Theaters wäre dies das Stadium des Ausprobierens vor dem endgültigen Verteilen der Rollen; eine Situation bevor die Dramaturgie des Stückes klar definiert ist. Deshalb ist das »Rheingold« der Vorabend, das Stück vor dem Stück: Die Figuren suchen ihre endgültigen Rollen, die Karten werden gemischt und verteilt. Das eigentliche Spiel wird erst beginnen mit der »Walküre«, wenn Wotan seine große vermeintliche Trumpfkarte ausspielt: die Wälsungen.
Das ungekürzte Essay finden Sie im Programmheft der Produktion