Mit dem ganzen Herzen tanzen, um das Publikum zu berühren
Drei neue Erste Solisten am Semperoper Ballett

Jun Xia, James Kirby Rogers, Hyo-Jung Kang © Semperoper Dresden, Foto: Josefine Lippmann
Interviews
Julia Bührle
Mit Leidenschaft, Hingabe und Herz: In der Spielzeit 2025/26 bereichern drei Tänzer und Tänzerinnen das Semperoper Ballett als neue Erste Solist*innen. James Kirby Rogers, Hyo-Jung Kang und Jun Xia erzählen von ersten Eindrücken, besonderen Rollen – und warum Tanzen für sie immer bedeutet, das Publikum zu emotional zu berühren.
James Kirby Rogers

James Kirby Rogers © Semperoper Dresden, Foto: Admill Kuyler
Du bist letzte Spielzeit von den USA, wo Du Deine ganze bisherige Karriere gemacht hast, nach Dresden gekommen. Was waren Deine ersten Eindrücke?
— Als ich zum Vortanzen kam, war ich sofort begeistert von der Semperoper und ihrer wunderschönen Fassade. Später hat mich Kinsun [Chan] durch das Opernhaus geführt und mir etwas von der Geschichte des Gebäudes erzählt. Das war sehr spannend: Die USA ist eine vergleichsweise junge Nation, in der wir nicht das gleiche kulturelle Erbe haben wie in Deutschland. Hier gibt es ein anderes Gespür für Geschichte, viele Gebäude und Kunstwerke sind älter als in den USA. Dieser Kontrast inspiriert mich.
In Deiner ersten Spielzeit hier hast Du bereits sehr viel getanzt: Der Nussknacker, Nijinsky, Wonderful World, Schwanensee, Noetic, November … Wie hast Du die Saison erlebt und was waren ihre Höhepunkte für Dich?
— Für mich war es sehr schön, neue Kolleg*innen kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen mit vielen tollen Leuten wie Kinsun Chan und Martin Zimmermann, Marcelo Gomes, Stephan Laks, Imre und Marne van Opstal und Claire Albaret zusammenzuarbeiten. Ein ganz besonderes Highlight war es, die Hauptrolle in Nijinsky zu tanzen.
Ein anderer spezieller Moment war meine Ernennung zum Ersten Solisten: Ich hatte keine Ahnung, dass es passieren würde. Dann sah ich nach der Vorstellung die Ballettdirektion mit Blumen in der Kulisse und habe mir gedacht: Vielleicht sind sie für mich! Es ist etwas Besonderes, auf der Bühne vor dem Publikum zum Ersten Solisten ernannt zu werden.
Reden wir über Vaslaw Nijinksy, den Du auch diese Spielzeit wieder in John Neumeiers Ballett verkörpern wirst. Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?
— Zunächst habe ich Nijinskys Tagebücher und eine Biografie von ihm gelesen. Mein Schauspielcoach hat mir zudem ein Buch des britischen Psychiaters Roland David Laing empfohlen, The Divided Self (1960). Er erklärt darin die Logik schizophrener Patienten und wie man diese Krankheit als gesunde Reaktion auf eine verrückte Welt verstehen kann. Das hat mir ermöglicht, Nijinskys Geschichte aus einer anderen Perspektive zu sehen. Deswegen stelle ich in meiner Interpretation der Choreografie nicht einfach einen Menschen mit Halluzinationen und irrationalen Reaktionen dar, sondern versuche auszudrücken, dass es in all seinen Handlungen eine klare Logik gibt.
Nijinsky war auch ein sehr spiritueller Mensch. So schrieb er etwa in seinem Tagebuch: „Ich bin Gott, ich bin Du, Du bist ich“; er wollte eins mit der ganzen Welt sein. Das unterscheidet sich nicht sehr von den den Lehren mancher Religionen wie dem Buddhismus. Ich fand seine Tagebücher sehr hilfreich, auch um John Neumeiers Vorstellung von ihm zu verstehen.
Wird es anders sein, es diese Spielzeit wieder zu tanzen?
— Bestimmt. Ich möchte beispielsweise Johns Archiv besuchen, um Nijinsky noch besser zu verstehen. Wenn man noch einmal an einem Stück arbeitet, kann man immer sehen, was funktioniert hat und was nicht, und dabei viel lernen.
Gerade tanzt Du Akram Khans Vertical Road, in dem sich verschiedener Stile begegnen. Worum geht es darin?
— Akram arbeitet in dem Stück mit dem klassischen indischen und dem klassischen europäischen Stil. Ich denke, er versucht, die Verbindungen zwischen den beiden Stilen hervorzuheben und zu zeigen, wie sie einander ergänzen. Wie in vielen seiner Stücke will er außerdem das Publikum dazu bringen, die eigene Realität zu hinterfragen. Es geht unter anderem darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen, nämlich die Kräfte, die unser Leben beeinflussen, die wir aber nicht durch unsere Sinne wahrnehmen können.
Hyo-Jung Kang

Hyo-Jung Kang © Semperoper Dresden, Foto: Admill Kuyler
Was hat Dich dazu gebracht, an die Semperoper zu kommen?
— Ich habe Kinsun einmal in Korea getroffen, ohne ihn wirklich persönlich kennenzulernen. Als ich ihm später dann in Dresden wieder begegnete, hat er mir mit großem Enthusiasmus von seinen Ideen und seiner Vision für die Company erzählt, beispielsweise, wie er das klassische und zeitgenössische Repertoire verbinden will. Da habe ich gespürt, dass ich hierherkommen wollte.
Der zweite Grund, warum ich nach Dresden gekommen bin, ist, dass die Menschen hier das Theater wirklich lieben. Ich habe eine Vorstellung von Classics besucht und die Energie des Publikums gefühlt. Die Leute waren begeistert und die Semperoper wurde zu einem magischen Raum.
Wie wurdest Du in Dresden aufgenommen?
— Die Leute hier sind sehr herzlich, sowohl außerhalb der Oper als auch innerhalb. Das Team ist sehr freundlich und hilfsbereit. Für mich ist hier alles neu, das ganze Repertoire. Die anderen Tänzer*innen bieten mir Hilfe an, auch wenn ich mich nicht traue, danach zu fragen.
Du hast ein sehr vielseitiges Repertoire getanzt. Was für besondere Momente gab es in Deiner Karriere?
— Ein besonderer Moment war mein erstes Dornröschen. Ich war noch im Corps de Ballet in Stuttgart und hatte noch keine große Rolle getanzt. Zu meinem Erstaunen wurde ich als Aurora besetzt, aber nur als Reservebesetzung. Es war nicht vorgesehen, dass ich wirklich tanze. Da sich eine Tänzerin sechs Tage vor der Premiere verletzt hat, bekam ich plötzlich überraschend eine Vorstellung.
Natürlich hatte ich vor der Vorstellung Angst, aber ich war so dankbar und glücklich, die Rolle tanzen zu dürfen. Als ich auf der Bühne war, war ich überhaupt nicht nervös – ich habe jeden Moment genossen und fühlte mich, als würde ich fliegen.
Und jetzt tanzt Du in Dresden wieder Dornröschen, in einer anderen Fassung.
— Ja, ich habe das Stück oft getanzt, und es hat eine spezielle Bedeutung für mich. Was mir an der Dresdener Produktion besonders gefällt, ist der neue Pas de deux, nachdem der Prinz Aurora aufgeweckt hat. Es ist eine Szene, die ich sehr schön finde. In anderen klassischen Fassungen küsst der Prinz Aurora und in der nächsten Szene sind sie verheiratet. Dieser Pas de deux baut gewissermaßen eine Brücke und zeigt den Moment, in dem sie sich verlieben.
Warum glaubst Du, dass so viele Ballerinen dieses Ballett tanzen möchten?
— Dornröschen ist eines der anspruchsvollsten Ballette für die Ballerina. Der erste Akt ist besonders anstrengend, und wenn man dann zum Grand Pas de deux im dritten Akt kommt, ist man vollkommen erschöpft, aber es ist ein besonderer Moment: Er ist sehr majestätisch und würdevoll. In dem Ballett gibt es auch sonst viele tolle Rollen, die ganze Company ist gefordert. Es hat auch eine wunderbare Musik und sehr schöne Ausstattung, was es zu einem perfekten Märchenballett macht.
Worauf freust Du Dich noch in dieser Spielzeit?
— Ich bin sehr glücklich, dass John Crankos Onegin nach Dresden kommt – das war noch ein Grund, warum ich wirklich hierherkommen wollte. Onegin ist eines meiner Lieblingsballette. Das Tolle an Crankos Stücken ist, das man einfach nur der Choreografie folgen muss; sie erzählt die Geschichte auf eine Weise, die das Publikum versteht und berührt.
Als ich nach Wien ging, kam dort auch Onegin. Ich weiß nicht, ob ich Onegin folge oder das Ballett mir folgt, aber für mich fühlt es sich völlig vertraut an. Es in Wien vor einem neuen Publikum und mit neuen Partnern zu tanzen war sehr besonders. So etwas Ähnliches würde ich gerne hier auch erleben.
Jun Xia

Jun Xia © Semperoper Dresden, Foto: Admill Kuyler
Wie bist Du zum Tanz gekommen und wie verlief Deine Ausbildung?
— Als Kind habe ich mich immer bewegt, wenn Musik lief, egal welche Art von Musik. Ich habe einfach angefangen zu improvisieren. Deswegen haben mich meine Mutter und Großmutter in Shanghai in den Tanzunterricht geschickt. Dort hatten wir eine russische Lehrerin, die sehr streng war. Alles musste sehr präzise sein, genau wie im Lehrbuch. Wir haben sehr viel gearbeitet, weil es unsere Leidenschaft war.
Dann habe ich 2012 am Prix de Lausanne teilgenommen und habe ein Stipendium für die ABT Studio Company in New York bekommen, wo ich meine Ausbildung beendet habe. Danach war ich in Hong Kong und Finnland engagiert.
Warum bist Du von Finnland nach Dresden gekommen, und wie sind Deine ersten Wochen hier verlaufen?
— Ich wollte nach Deutschland kommen, weil die Kunst und Musik hier so wichtig sind. Von der Semperoper und ihrem weltberühmten Orchester hatte ich schon in meiner Jugend gehört und wollte sie eines Tages besuchen. Anfang dieses Jahres bin ich dann zum Vortanzen gekommen, und ich konnte nicht fassen, wie schön das Gebäude ist. Kinsun hat mir einen Vertrag angeboten, und ich habe angenommen. Ich wollte etwas Neues sehen und erleben und von den Leuten hier lernen.
Es ist wirklich eine Ehre für mich, hier zu arbeiten. Das Arbeitsumfeld ist sehr gut: Meine Kollegen*innen, die anderen Tänzer*innen und die Ballettmeister*innen waren von Anfang an sehr nett zu mir. Es ist wie eine Familie, weil sich die Leute um einen kümmern.
Nun probst Du gerade die Rolle des Gemahls der Zuckerfee im Nussknacker. Warum glaubst Du, dass die Leute dieses Ballett immer wieder sehen wollen?
— Es ist eine Tradition zu Weihnachten und gehört hier einfach zu diesem Fest. Jeder kennt die Geschichte und die wunderschöne Musik von Tschaikowsky. Das Ballett bringt Freude, es ist ein festliches Stück für die ganze Familie. Die Kinder wachsen schon damit auf. Später nehmen sie ihre eigenen Kinder mit, um die Tradition weiterzugeben.
Wie ist es, das Stück immer wieder zu tanzen?
— Ich mag die Rolle sehr gern, denn selbst wenn ich sie immer wieder tanze, ist es nie das Gleiche. Zum Beispiel ist meine Beziehung zu meiner Partnerin und den anderen Tänzer*innen auf der Bühne immer etwas anders. Ich fühle mich ein wenig wie ein Instrument, das dieselbe Musik spielt, aber immer mit einem anderen Klang: an einem Tag bin ich eine Geige, am nächsten ein Klavier. Auch wenn ich einen Prinzen tanze, kann ich ihn heute so und morgen ganz anders spielen. Ich will nicht, dass die Leute sich langweilen, wenn sie mich mehrmals tanzen sehen. Es ist eine Live-Vorstellung und es ist wichtig, dass wir zeigen, dass wir Menschen mit einem Herzen sind. Das Publikum soll berührt werden, auch in ganz klassischen Balletten.
Worauf freust Du Dich sonst diese Spielzeit?
— Ich freue mich besonders auf Onegin und Nijinsky. John Cranko und John Neumeier sind meine Lieblingschoreografen. Ihre Ballette sind sehr dramatisch und vermitteln Emotionen, die man im richtigen Leben verspürt. Je mehr man erlebt hat, desto besser kann man sie tanzen. Die Rolle des Lensky und die des Onegin sind wunderschön, ich würde sie sehr gerne lernen. Es wäre auch eine Ehre für mich, Nijinsky zu tanzen.
Welches Ballett würdest Du sonst noch gerne tanzen?
— John Neumeiers Kameliendame. Neumeier kennt die Musik von Chopin ganz genau und hat eine Choreografie geschaffen, die perfekt zu ihr passt. Es gelingt ihm, sich durch die Sprache von Musik und Bewegung auszudrücken, und man versteht die Bedeutung jedes Schrittes. Man kann sehr viele Emotionen hineinlegen. Mir kommt es vor allem darauf an, mit dem ganzen Herzen zu tanzen, nur so kann man das Publikum berühren.